Im Zentrum der Arbeit von James Genova stehen Aspekte der politischen Kultur der westafrikanischen französischen Kolonien (AOF) zwischen dem ersten Weltkrieg und 1956. Hauptgegenstand der Betrachtung sind dabei die évolués. Diese stellten ursprünglich nur eine kulturpolitische Kategorie der französischen Kolonialmacht dar, nahmen aber schließlich eine eigene soziopolitische Identität und Handlungsmacht an. Sie spielten in den Auseinandersetzungen mit Frankreich vor allem im Zuge der Dekolonisation und post-kolonialen Nationenbildung eine entscheidende Rolle innerhalb der frankophonen Länder Westafrikas. Als évolués wurden diejenigen Afrikaner bezeichnet, die - vor allem in den Zentren der Kolonialverwaltung - zu den Ersten jener gehörten, die in den Genuss von Bildung bzw. Ausbildung kamen, zu einem großen Teil in den Kolonialdienst integriert wurden und schließlich als (in Sinne der französischen Kultur) "Entwickelte" besondere Förderung und Privilegien erhielten sollten. Von ihnen wurde erwartet, dass sie zum einen der Kolonialmacht politisch besonders verpflichtet waren und zugleich als personelle Vorbilder und Vorreiter der kulturellen Mission civilisatrice dienten, die mit den kolonialen Unternehmungen einherging. Viele von ihnen waren unter den ersten westafrikanischen Studenten, Arbeiter und schließlich auch Politikern im Mutterland Frankreich.
James Genova verfolgt die Position der évolués auf verschiedenen Ebenen, als politische Akteure, Träger sozialer Bewegungen und Gestalter kultureller Diskurse durch verschiedene historische Zeitabschnitte hindurch. Dabei macht er immer wieder die überaus ambivalente Position deutlich, die die évolués durch ihre doppelte kulturelle Affinität, ihren Wunsch nach Distinktion von der Klasse der französischen Kolonialpolitiker und der Forderung nach eigenen politischen Räumen einerseits, und ihrer (mitunter unbewusst) tiefen Prägung durch eben dieses Kolonialregime, seine Sprache, Kultur, seine Institutionen und Werte andererseits kennzeichnen.
Genova geht von der prägenden Rolle kultureller Konzepte in der Kolonialgeschichte aus. Er zeigt dabei die Relevanz der diskursiven Dimensionen des kolonialen Feldes auf, das parallel zu historischen Transformationen den Kampf um die autoritäre Deutungsmacht zwischen évolués und Kolonialpolitikern aller Couleur prägte, im Wesentlichen um die Frage der kulturellen "Authentizität" kreiste und dabei vor allem verschiedene, meist inkohärente Perspektiven darüber erzeugte, was es heißt, ein (wahrer) Afrikaner bzw. Franzose zu sein, und somit bestimmte Positionen innerhalb des koloniale Feldes einnehmen zu dürfen.
Einer der zentralen heuristischen Begriffe Genovas, im Anschluss an Homi Bhabha 1, ist mimicry, der eine doppelgesichtige, wechselseitige kulturelle Aneignung kolonialer Subjekte (hier der évolués) und einer hegemonialen Macht, sowie die Wirkung dominanter kultureller Diskurse und ihre Grenzen bezeichnet. Genova rekonstruiert dieses Feld diskursiver Auseinandersetzungen um Identität, Macht, Hegemonieansprüche und seine Transformationen über mehrere Jahrzehnte hinweg.
Die Studie setzt am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein. Zu dieser Zeit genossen Afrikaner in den quatres communes im heutigen Senegal eine besondere Vorzugsstellung, wurden zu einer neuen Elite. Erste loyale politische Vertreter aus diesen Zentren der Kolonien wie Blaise Diagne zogen in die französische Nationalversammlung ein und bekräftigten ihr Französischsein. Zugleich zogen die Franzosen zahlreiche Afrikaner zum Kriegsdienst ein, die nach ihrer Rückkehr das Bild der Kolonialmacht enorm prägten. Viele évolués unterstützten aus ehrlichem Patriotismus diese Kampagnen, mussten dann aber die Ungleichbehandlung der Tirailleurs Senegalais miterleben.
Der zweite Abschnitt behandelt die 1920er-Jahre und die vielfältigen Wirkungen der Kontakte etlicher évolués mit französischen Parteien, vor allem der kommunistischen Partei, die nachhaltigen Einfluss auf die Bildung ersten afrikanische Parteien und ihre ideologischen Prägung nahm. Das dritte Kapitel wendet sich vor allem den Aspekten der Politisierung afrikanischer Kultur zwischen den Weltkriegen zu, die durch einen Boom ethnografischer Beschreibungen und Analysen entsprechend ausgebildeter Kolonialverwalter einerseits, aber auch die krampfhafte Einbeziehung als solcher ausfindig gemachter lokaler Machteliten in die Kolonialadministration gekennzeichnet war.
Den Anfängen der philosophisch-literarischen Negritude-Bewegung, die die Förderung ''authentischer'' afrikanischer Kultur postulierte, wendet sich das vierte Kapitel zu. Im fünften Kapitel wird der Rolle der évolués im Frankreich des Zweiten Weltkriegs, den Auseinandersetzungen um den Faschismus nachgegangen. Schließlich beleuchtet das sechste Kapitel die Zeit der Dekolonisation, bevor in der Zusammenfassung die zentrale Rolle des Kampfes um kulturelle Authentizität innerhalb der politischen Kultur der Kolonien ebenso wie seine Auswirkungen auf das Bewusstsein, die Exklusionspraxen und Inszenierungen politischer Macht der derzeitigen Eliten der westafrikanischen Länder heute verdeutlicht wird.
Genova promovierte mit vorliegender Arbeit an der State University New York und ist gegenwärtig zugleich Assistant Professor für Geschichte an der Ohio State University und Senior Lecturer in African Studies. Sein Buch verbindet in origineller Weise geschichtswissenschaftliche, soziologische und kulturwissenschaftliche mit postkolonialen bzw. postmodernen Theorieansätzen. Er nutzt ein umfangreiches Korpus von Archivquellen, vornehmlich der französischen Kolonialarchive (v.a. des Centre des Archives d'Outre Mer in Aix-en-Provence) sowie in Dakar, aber auch zahlreiche Selbstzeugnisse, Presseartikel, kulturwissenschaftliche Schriften der verschiedenen Epochen.
Genova gelingt es, die Auseinandersetzungen auf dem diskursiven kolonialen Feld in direkter Konkordanz mit den Ereignissen auf den politischen Bühnen zu beschreiben und somit ein differenziertes Bild der beständigen Aushandlung und Veränderung der Beziehungen zwischen Konialmacht und Kolonisierten zu zeichnen. Trotz gründlicher Diskussion der wichtigsten politischen Ereignisse sowohl in der AOF als auch in Frankreich ist Genovas Absicht sicher nicht, eine umfassende Geschichte der Kolonisation und Dekolonisation in Westafrika zu verfassen, sondern einen besonderen Aspekt ihrer politischen Kultur und vor allem ihrer zentralen Protagonisten zu beleuchten, deren ambivalente Positionen, Haltungen und Strategien im historischen Wandel zu rekonstruieren. Viele der einzelnen historischen Entwicklungen, die Genova hier diskutiert, sind in zahlreichen anderen geschichtswissenschaftlichen Werken zudem genauer aufgearbeitet worden. Allerdings wurde die französische Kolonialgeschichte selten so umfassend unter dem Blickwinkel einer Geschichte sozialpolitischer Identitäten, kulturpolitischer Positionen und ihrer Transformationen betrachtet. Die Relevanz dieses Forschungsobjekts erwächst aus der Tatsache, dass die Art und Weise, in der die évolués auf den politischen Bühnen in der Kolonialzeit agierten, vor allem dann auch in der nachkolonialen Zeit seinen Ausdruck in kulturalistischen Diskursen, typischen Inszenierungen von Staatlichkeit, einem Elitedenken und klientelistischen und neopatrimonialen Strukturen fand, die zugleich eine gewisse Banalität der postkolonialen Machtinszenierungen 2 zwischen Nachahmung und Beharren auf einer wie immer gearteten "Authentizität" fortführte.
Auffallend ist, dass einige Personen quer zu den hier erwähnten Perioden immer wieder auftauchen, wie Diagne, Kouyaté, Chief M'Ba, Senghor, aber auch Van Vollenhofen, Delafosse etc. Sie sind die zentralen Figuren der Arbeit. Andere Figuren wie Hampate Bâ etc. wiederum treten kaum in Erscheinung. Dies scheint dem Umfang der jeweils genutzten Quellen, weniger einer bewussten Auswahl geschuldet zu sein. So fällt ebenfalls auf, dass die hier verwendeten Quellen vor allem das heutige Senegal behandeln, und andere französische Kolonien, vor allem das ehemalige Dahomey, kaum erwähnt werden. Gerade aber die Bezeichnung Dahomeys als das so genannte "Quartier Latin" Afrikas würde eine besondere Diskussion erwarten lassen, die die divergierenden Wahrnehmungen von Akkulturation versus Differenz aufgreifen könnte. Eine stärkere regionenspezifische Differenzierung verschiedener Teil-Gruppen bzw. Personenkreise, bzw. Diskurse innerhalb der évolués, in einer stärkeren Gegenüberstellung bestimmter Einzelperioden und ihrer Biographien tritt allgemein in der Studie zu sehr in den Hintergrund. Hier sei aus der Sicht des Ethnologen zudem angemerkt, dass jene Abschnitte der Studie, die der kolonialen Konstruktion von afrikanischer Kultur bzw. der 'Erfindung Afrikas' 3 gewidmet sind, die Genova im dritten Abschnitten in ihren Einfluss auf die politischen Diskurse der damaligen Zeit anführt, besonders quellenarm erscheinen. Gerade in diesem Abschnitt erfährt man nichts wesentlich Neues z.B. über den Einfluss von Kolonialfachsschulen Frankreichs auf die Sichtweise der Akteure, ebenso darüber, wie Berichte und ethnografische Arbeiten entstanden, die bis heute die Ethnizitätsdebatten der Regionen prägen. Genova führt im Einzelnen wenige Beispiele an, die seine Thesen belegen. Zu bemängeln ist ebenso die fast völlige Ausblendung anderer als englisch- und französischsprachiger Arbeiten. Das Jahr 1956 als Endpunkt einer solchen Studie, das auf die Verabschiedung des "Gesetzes Gaston Deferre" zur effektiven Dekolonisation Bezug nimmt, ist ebenso diskussionswürdig.
Generell ist die Studie aber in sich überaus reich, stilistisch sicher und abgerundet, trotz der vielen Verweise gut lesbar und schnörkellos. Gerade die Verknüpfung unterschiedlicher Quellensorten und theoretischer Blickwinkel macht sie zu einem wertvollen Beitrag der kolonialen Geschichte. Sie kann nicht nur Afrikawissenschaftern und Historikern, sondern auch kulturwissenschaftlich bzw. interkulturell interessierten Leserkreisen empfohlen werden.
Literaturverzeichnis:
1 Bhabha, Homi, The Location of Culture, London 1995.
2 Mbembe, Achille, On the Postcolony. Berkeley 2001.
3 Mudimbe, Valentin, The Invention of Africa, Bloomington 1988.