Das ist die Geschichte des Anschlags auf Amerika aus der Sicht der Kommission, die 20 Monate dessen Hergang untersucht und nun ihre Empfehlungen gegeben hat.1 Damit hatte sie der Kongress ein Jahr nach dem 11. September 2001 beauftragt. Ihr Abschlussbericht liegt seit Ende Juli vor: ein spektakulärer Report, der sich als Buch kurz nach seinem Druck bereits in den Händen von einer Million Lesern befand. Seine offene Kritik setzt Maßstäbe.
Die ungeschminkte, oft rücksichtslose Darlegung von Fakten erscheint darin als Stärke der offenen Ordnung. Rund 50 Empfehlungen ergehen, die im neuen Jahrhundert nicht nur Amerika verändern werden. Wie jene Entschlüsse, die Washington nach den beiden Weltkriegen gefasst hat. Am Potomac fand eigentlich erst jetzt eine Austragungsart des Ost-West-Konfliktes, der Kalte Krieg, durch den Anschlag sein schockierendes und durch den Bericht sein reflektierendes Ende. Bis dahin lebte Washington noch passiv in der Mentalität des Kalten Krieges. Dies erlaubte es den Terroristen, ihre Tat binnen dreier Jahre auszuführen. Aber Amerika steht am Anfang des Kriegs gegen den islamistischen Terrorismus. Nord-Süd-Konflikte rücken ins Zentrum. Vor allem geht es um Nah- und Mittelost. All das belegt der Report im Detail. Bevor drei seiner Schwächen betont werden, noch ein Wort zu den Quellen der Kommission.
Das zehnköpfige Gremium unter Leitung von Thomas H. Kean und Lee H. Hamilton ließ zweieinhalb Millionen Dokumente aus allen Ebenen der Administrationen sichten, 1.200 Personen aus zehn Ländern interviewen und 160 Zeugen in 20 Tagen öffentlich befragen. Aussagen Gefangener flossen auch ein, so von Khalid Scheich Muhammad, Generalplaner des Anschlags. Alle sind vernommen worden, die unter Bill J. Clinton und George W. Busch seit 1993 Terrorabwehr und auswärtigen Beziehungen gestaltet haben. Fortan überwacht ein privates Nachfolgebüro, wie Empfehlungen umgesetzt werden. Eine Quellengattung fehlte: Bekennervideos der Entführer, die entweder verloren gingen oder noch auftauchen.
Der Leser fährt gefühlsmäßig Achterbahn. Zunächst wird die Entführung der vier Flugzeuge erhellt. Knapp 3000 Leben fanden am sonnigen Dienstag im tausendfachen Tod ihr Ende. Da evakuierten sich im Südturm oben rund hundert Leute nicht, weil man ihnen dies trotz des Einschlags im Nordturm nicht geraten hatte. Unter ihrem Büro stürzte dann das zweite Flugzeug ein. Sie kamen wie fast alle oberhalb der Einschläge um. Auf dem Platz wurde ein Helfer durch einen Herabfallenden erschlagen. Als Passagiere das Cockpit stürmten, stürzte Ziad Djarra das Flugzeug über Pennsylvania ab. Er rief „Allah ist groß“ und sollte das Weiße Haus treffen, das Usama Bin Ladin dem Capitol bevorzugt hatte. „Allah ist groß“ steht zwar im arabischen Superlativ, muss aber für die monotheistische Religion im Komparativ lauten, nicht „greatest“, sondern „great“: da es nur einen Gott gibt, kann neben ihm keiner kleiner oder größer sein.
Der Bericht vermerkt, dass im Jahr nach dem Anschlag in ganz Amerika sechs Studierende mit Kenntnissen des Arabischen graduierten. Ein unglaubliches Manko. Daher wird empfohlen, linguistische Bereiche zu stärken.
Nach dem Anschlag kamen unsinnige Erklärungen wie die vom „hausgemachten Komplott“ auf. Der Bericht widerlegt sie. Blättert man darin, so wurde das Vorfeld des Anschlags gut erforscht. Warnungen gab es. Doch waren wenige befähigt, das Gesamtbild zu sehen. Am weitesten kam Richard A. Clarke, seit 1998 Terror-Abwehrchef im Weißen Haus. Er wusste ein Jahr vor dem Anschlag, dass al-Qa'ida Zellen im Land hat. Niemand, so der Bericht, kam auf die Idee, dass Flieger so benutzt werden würden. Aber diese Idee kam schon 30 Jahre früher auf.
Das führt zur ersten Schwäche des Berichts: er leuchtet vor allem die Zeit seit 1993 aus, doch fehlen die historischen Dimensionen des Terrorismus. Er weist wenig über Amerika hinaus: manches heißt neu, was alt ist. Nahost und Europa rangen längst mit Terrorismus, der Amerika erst durch den Anschlag auf die New Yorker Türme 1993 erfasste. Aber selbst nur mit dem US-Maßstab gäbe es zum Terrorismus mehr zu sagen, der seit 1969 speziell Richard M. Nixon, James E. Carter und Ronald W. Reagan plagte. Sie hatten Rezepte, die vergessen sind. Insofern muss der Bericht global ergänzt werden mit den Zäsuren: 1914, 1948 und 1969. Für Amerika wiederum ragt 1941 heraus, als es sich im Orient zu etablieren begann.
Dies führt zur zweiten Schwäche: die Autoren vermieden, historische Zusammenhänge des Anschlags mit der US-Außenpolitik auszuloten. An einer Stelle heißt es über Usama Bin Ladins Beschwerden gegenüber Amerika, diese löste wohl eine spezifische Politik der USA aus. Anderenorts steht, weder die Armut noch Außenpolitik bewirkten den Terrorismus. Sicher, ein schlüpfriger Pfad, der leicht zu Einseitigkeiten oder gar zu Rechtfertigungen verleitet. Weder die Polemik „Ihr habt geerntet, was ihr gesät habt“ noch der „arme“ Terrorist treffen zu. Umgekehrt geraten Menschen mit guten Aussichten selten extrem.
Der radikalislamische Terrorismus und Washingtons Außenpolitik standen auch im Zusammenhang. Ein frühe Sünde war der Sturz des Regimes in Iran 1953 mit US-Hilfe. Eine nächste, als Washington Ägypter drei Jahre später durch den Entzug der zugesagten Hilfe für den Aswan-Hochdamm verprellte. Das öffnete Moskau die Tür und mündete im Sues-Krieg. Sicher, es gab aus der US-Sicht Argumente. Doch viele ungelöste Probleme erzeugten in Nah- und Mittelost ein negatives Image Amerikas. Bald geriet die arabische Niederlage gegen Israel 1967 zum muslimischen Trauma. Der Zustand des Krieges hielt an.
Zurück zur Frage, wie alt die Idee des Missbrauchs von Linienflugzeugen im zivilen Hinterland ist. Der Bericht zeigt, dass Khalid Scheich Muhammad, der dies Ende 1998 ausgeheckt und Usama Bin Ladins Segen erhalten hatte, zuvor Flieger durch Bomben gleichzeitig über dem Atlantik abstürzen lassen wollte. Die philippinische Polizei vereitelte das Manila-Komplott und informierte die Amerikaner. Der Bericht spricht von „frühen Zeugnissen eines neuen Typs des Terrorismus“. Das ist seine dritte Schwäche: Lücken an Informationen.
Die Flugzeugentführungen sind in Nahost nach dem Krieg 1967 modern geworden. Palästinenser wollten in ihrer Radikalität der Schwäche auf die neue Lage hinweisen, als weite Teile ihrer Heimat und der umliegenden Länder unter Israels Okkupationsregime kamen. Bald geriet die Münchner Olympiade 1972 zum Medienereignis, bei dem erstmals Millionen Zuschauer in der Welt eben diesen palästinensischen Terrorismus live verfolgt haben.
Doch die chaotische Abwehr auf der Olympiade ermutigte Gruppen des Schwarzen Septembers und der al-Fatah. Ein Beispiel: In einer Information für den Ostberliner Stasi-Chef Erich Mielke klang 1973 über Pläne „palästinensischer und israelischer Terroristen“ (letzteres meinte Palästinenser unter Israels Macht) viel an: Luftpiraterie, Täuschung mit falschen Pässen und Uniformen, Tarnwege aus für manche Araber visafreien Ländern in Fernost, Linienflugzeuge als Waffen und Terror im Hinterland der Gegner. Neu war jüngst nicht einmal der Selbstmord der Täter. Denn so etwas galt bereits vor Jahrzehnten als „Märtyrerkommando“ mit dem Tod als Folge. Laut Bericht suchten die Terroristen den psychologischen Schock. Usama Bin Ladin hoffte durch den Einsturz der Türme viele Leute umzubringen. Er wollte ein Hiroshima. Das ist neu.
Das Fazit im Bericht, im islamischen Raum herrsche nicht viel Wissen über den Westen vor, trifft zu. Einige Empfehlungen suchen das nun zu beheben. Aber dies lässt sich für die USA auch sagen: in Amerika war das Wissen über islamische Regionen weder bei Bürgern noch bei Politikern ausgeprägt. Wer nicht im Erdöl- und Reisegeschäft war oder Verwandte in Israel und Umgebung hatte, dem lag Nah- und Mittelost sehr fern. Selbst der Bericht verrät die kulturhistorische Kluft: Sunniten werden Sekte des Islam genannt; die Erklärung zu historischen Wurzeln von Terrorismus im Islam ist schwach; Namen aus dem Orient sind verballhornt; in einer Fußnote steht, die im Arabischen zum Namen zählenden Artikel würden ausgelassen und eine universelle Transkription des Arabischen fehle.
Die Kommission hätte der Transliteration in der Library of Congress folgen können. So wäre jeder fremde Name einmal korrekt erschienen. Zumal der Bericht beklagt, dass bunte Umschriften zu Fehlern führten und Terroristen durch leicht veränderte Namen entkamen. Dieser Standard der orientalischen Transkription bietet sich in Grenzpunkten und Überwachungslisten an. Zwar müssen da verballhornt umschriebene Namen genutzt werden, wie sie ihre Träger führen. Aber ein korrekter Nebeneintrag im System könnte entscheidend sein. All das wäre nichtig, beträfe es nicht eine Lücke in der Wahrnehmung anderer Völker.
Amerika stieß in den Weltkriegen nach Nah- und Mittelost vor, zog sich aber rasch wieder heraus. Der Kalten Krieg erhob es nach dem Sues-Debakel der traditionellen Vormächte Großbritannien und Frankreich zwar zur westlichen Führungsmacht auch im Orient. Doch blieb dies eine sekundäre Rolle in der primären Frage, das nukleare Inferno zu vermeiden. So gesehen, war Washingtons Herangehen an jene Region diesem Zweck untergeordnet. In wenigen Administrationen versuchte man, ihre Natur zu begreifen. Nixons Regierung bemühte sich ernsthafter um die Regelung des Konfliktes zwischen Arabern und Israelis. War im feindlichen Tauziehen des Ost-West-Konflikts, wo die Weltmächte „ihren“ Seiten halfen, eine gerechte Beilegung des regionalen Grundübels denn möglich?
Der Hass auf die sympathische Weltmacht stieg. Dennoch war und ist Amerika vielen Menschen der Region ein Lichtblick. Denn die Neue Welt galt selbst als Kolonie. Sie löste sich vom Mutterland und schickte einen Impuls der Befreiung um die Welt. In der Urkatastrophe des vorigen Jahrhunderts griff Amerika kriegsentscheidend gegen das Osmanische Reich ein, den letzten großen Zusammenhang der Muslime. Araber und Deutsche sahen sich als Verlierer. Im Zweiten Weltkrieg setzte die palästinensische Führung auf die Nazis. Als Amerika wieder auf der anderen Seite den Krieg entschieden hat, hatte der Palästinenserführer Amin al-Husaini Jahre gegen „Amerikaner, Briten und Juden“ gehetzt.
Dann kam eine Zeit, bei der über einer echten Konfliktregelung stets das nukleare Damoklesschwert hing. In Nah- und Mittelost ging blinder Radikalismus um, willkürlich soziale und politische Revolutionen durch Militärs umsetzen zu wollen. Viel Hilfe kam dafür aus Osteuropa. Dies schlug auf säkularen Wegen von Algerien über Ägypten bis nach Syrien und Irak fehl. Mit dem Niedergang der Sowjetunion brach Palästinensern abermals eine große Stütze weg. Aber auch islamistische Varianten scheiterten nicht nur in Iran und Sudan. Ein modernistischer Scherbenhaufen aus der Verwestlichung und Veröstlichung nach Washingtons und Moskaus Modellen. Nah- und Mittelost fiel noch hinter des subsaharische Afrika zurück. Der Kernkonflikt um Palästina indes deformierte völlig.
Amerika trug viel Verantwortung dafür. Positiv wirkte, dass es für die Dekolonialisierung Afrikas und Asiens sowie für freien Handel und Wandel eintrat. Im Zweiten Weltkrieg verhinderte es mit den Alliierten einen weiteren Holocaust, denn Hitler wollte mit Juden in Nah- und Mittelost verfahren wie in Europa. Das hatte er Ende 1941 Jerusalems Großmufti Amin al-Husaini erklärt. Indem Amerikaner im selben Jahr die präventive Besetzung Irans unterstützten und ein Jahr darauf selbst in Marokko und Algerien den deutsch-italienischen Vormarsch endgültig stoppten, haben sie den dortigen Völkern viel erspart.
Schlecht war, dass sich Amerika immer wieder aus der Region zurückzog und die Ziele der regionalen Stabilität durch Entwicklung aufgab. Da es erstmals mit der NATO sein Sicherheitssystem in Europa aufgebaut und seiner Isolation entsagt hat, ging es an Nah- und Mittelost als Flankenzone des Kalten Kriegs heran. Daher neigte Washington oft zur Kosmetik. Es kooperierte mit schäbigen Tyrannen. Diese kurzfristigen Ziele im Kalten Krieg, so betont der Bericht, wurden durch langfristige Rückschläge zunichte gemacht. Washingtons Hilfe für den afghanischen Djihad gegen die Sowjetunion wird im Bericht herunterspielt. Dabei versorgte sie nicht nur Mudjahidin, sondern Washington legitimierte - wie die Deutschen in den Weltkriegen mit ihrer Revolutionierung islamischer Gebiete der Feinde durch Djihad - dieses Mittel gegen die jüdisch-christliche Tradition, am Ende gegen sich selbst. Es fehlt nun ein Report zur US-Nah- und Mittelostpolitik, der fair Plus und Minus im vorigen Jahrhundert erhellt, so den Schutz und die Befreiung dortiger Staaten sowie die vielen Fehlschläge bei einer gerechten Regelung des arabisch-israelischen Konfliktes.
Anmerkung:
1http://www.9-11commission.gov/report/index.htm