Vom Rio de la Plata über Danzig zum 38. Breitengrad
Mehr als 20 Jahre nach seiner Konzeption hat ein weiterer Teil eines der interessantesten und wichtigsten Editionsprojekte zur internationalen Geschichte seinen Abschluss gefunden: Die teilweise in Auswahl (Teile I & II), teilweise komplett (Teile III & IV) vorgelegte Ausgabe der so genannten "Foreign Office Confidential Print" von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1950. Hierbei handelt es sich um britische diplomatische Berichte, Telegramme, Memoranden, Kurzbiografien usw., die für einen hochrangigen Benutzerkreis -- vor allem die englische Königin bzw. den König, wichtige britische diplomatische Vertretungen, bestimmte Regierungsbehörden -- ausgewählt und vervielfältigt wurden. (Wobei sich die Kriterien und Einteilungen im Laufe der Zeit mehrfach änderten, wie die allgemeinen Einleitungen zu den Teilen darlegen.) Nur zwei einigermaßen vollständige Originalsätze existieren für die Zeit bis 1939 im Public Record Office in Kew und in der Foreign and Commonwealth Library, dazu noch einige lückenhafte Sätze; für die Zeit danach wurden die Exemplare im Public Record Office benutzt, die erst nach einer Sperrfrist von 50 Jahren freigegeben wurden.
Da das britische Empire die Erde umspannte, interessierten sich britische Diplomaten auch für den ganzen "Rest" der Welt. Das Ergebnis ist eine Unmenge an Dokumenten, die nicht nur für die britische Diplomatiegeschichte wichtig sind, sondern gerade auch für die Erforschung der Geschichte der entsprechenden Länder, ähnlich wie für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend die Bände der "Foreign Relations of the United States". Die Spannweite der "Foreign Office Confidential Print" reicht vom Krieg zwischen Argentinien und Uruguay seit 1839 (Teil I, Serie D, Band 1) über den Problemfall Danzig in der Zwischenkriegszeit (wie die polnisch-litauische Grenzziehungsproblematik ausführlich verfolgt in II, F, 51ff.) bis zum beginnenden Koreakrieg 1950 (IV, E, 10). Wenngleich Europa immer mehr zum Schwerpunkt des Interesses wurde (mehr als ein Viertel der Bände gehören zur Serie F), so gibt es doch auch zu Afrika von 1946 bis 1950 fünf Bände, die allerdings besonders Ägypten und Äthiopien behandeln (IV, G).
Die Sammlung ist in vier chronologische Teile gegliedert: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914 (Teil I), Zwischenkriegszeit (Teil II), Zweiter Weltkrieg (Teil III) sowie 1946 bis 1950 (Teil IV). (Ein Teil V für die Jahre 1951-1956 ist angekündigt und soll ab 2005 erscheinen.) Innerhalb dieser vier Teile gibt es jeweils sieben Serien: Russland/Sowjetunion (Serie A), Naher Osten (B), Nordamerika (C), Lateinamerika (D), Asien (E), Europa (F) und Afrika (G). Eigene Serien beschäftigen sich mit dem Ersten Weltkrieg (H), den Pariser Friedenskonferenzen im Anschluss (I; 15 Bände!), dem Völkerbund (J), "Wirtschaftlichen Angelegenheiten, Kulturpropaganda und der Reform des Foreign Office" zwischen 1910 und 1939 (K), dem "Zweitem Weltkrieg und Allgemeinem" (L) sowie "Internationalen Angelegenheiten, Commonwealth-Angelegenheiten und Allgemeinem", 1946-1950 (M).
Jeder Band wird von einer Übersicht der enthaltenen Dokumente (Ordnungsnummern, Dokumententyp, Autor, Datum, Betreff) bzw. den Verweisen auf solche Übersichten im Rest des Bandes eröffnet, es schließen sich die allgemeine Einleitung zum jeweiligen Teil, eine spezielle Einleitung von meist vier bis fünf Seiten zur entsprechenden Serie bzw. Unterserie und eine Chronologie an. Die Dokumente selbst werden praktisch unkommentiert und unkorrigiert reproduziert. Zusammenhänge zwischen den Bänden werden, wenn überhaupt, nur in den Einleitungen gegeben. Ein ausführlicher Index fehlt leider, selbst auf Bandebene; in den Bänden der Teile III und IV findet man immerhin am Ende ein kurzes Schlagwortregister. Letzteres allerdings gibt ebenfalls nur einen groben Überblick, so dass manchmal Phantasie und Glück notwendig sind, um auf etwas zu stoßen. Es ist eben kaum zu erwarten, dass in einem der wöchentlichen politischen Berichte über die USA ein eigener Abschnitt der Reaktion auf die Rückberufung General Joseph W. Stilwells aus China im Oktober 1944 gewidmet ist (III, C, 4, S. 429f.); das Schlagwortregister enthält zwar einen Eintrag zu China, doch verweist dieser auf eine andere Stelle. Während man die fehlende Kommentierung der einzelnen Dokumente durchaus verschmerzen kann, muss man das Fehlen von wenigstens Namens- und Ortsregistern als Mangel ansehen.
Selbstverständlich handelt es sich jeweils nur um eine Auswahl der gesamten britischen Akten zu den einzelnen Ländern, in den Teilen I und II sogar um eine durch die einzelnen Herausgeber noch zusätzlich eingeschränkte Auswahl. (Hierbei wurde auch Wert darauf gelegt, Überschneidungen mit den "Documents on British Foreign Policy 1919-1939" und anderen bereits vorliegenden Akteneditionen gering zu halten.) Betrachtet man beispielsweise die "British Foreign Office Correspondence" für Japan 1926 und 1927, so sind dort grob gerechnet dreieinhalbtausend Seiten an Originalakten verfilmt, während dieser Zeitraum in den "British Documents on Foreign Affairs" in einem Band mit ca. 430 Seiten abgehandelt wird (II, E, 8). Andererseits erhält der Leser damit eine vor allem auf politische und wirtschaftliche Themen konzentrierte Fassung der Berichterstattung, ohne durch Dokumente zu konsularischen Fragen, Entwürfe und Ähnliches abgelenkt zu werden. Und zu Deutschland etwa zwischen 1920 und 1939 (II, F, 31ff.) ergibt sich immer noch ein Band pro Jahr, auch ohne dass dort kulturelle Ereignisse wie die Olympischen Spiele 1936 größere Beachtung finden würden. Dennoch bleiben genügend Details übrig: So wird im ersten Wochenbericht nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1944 erwähnt, dass in der Rundfunkübertragung vor der letzten Wahlkampfansprache Roosevelts Lieder politischen Inhalts gespielt wurden, darunter eines von Groucho Marx (III, C, 4, S. 432).
Für die europäische und nordamerikanische Geschichte liegt der Nutzen der Bände offensichtlich im speziell britischen Blick auf Ereignisse, die andernorts ausführlicher dokumentiert sein können. Für andere Gebiete und Länder dagegen dürfte es häufig schwer fallen, eine ähnlich inhaltsreiche Quelle in Druckform zu finden. So ist z.B. die über zwei Bände sich erstreckende Berichterstattung über den Kongo-Freistaat bzw. Belgisch-Kongo bis 1914 (I, G, 23f.) nicht nur per se hochinteressant zu lesen, sondern auch ein notwendiges Korrektiv zu gewissen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Noch mehr als die gelegentlich schwierig zu benutzenden Verfilmungen der Originalarchivalien stellen diese Bände darüber hinaus für die universitäre Lehre ein wichtiges Hilfsmittel dar.
Kurzum, die Sammlung "British Documents on Foreign Affairs" ist eine selbstverständlich allein nie ausreichende, aber zentrale Quelle für den gesamten Bereich der politischen, diplomatischen und auch Wirtschaftsgeschichte der Welt zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts.