Etwa zehn Jahre nach der Erstauflage bei Cambridge University Press liegt eine Neuauflage des Buches von Peter Linebaugh vor, das gute Chancen hat, ein Klassiker der Sozialgeschichtsschreibung zu werden. Erschienen ist es in dem rührigen Verlagshaus Verso, dessen Geschichte eng mit der vor mehr als vierzig Jahren entstandenen Neuen Linken Großbritanniens verbunden ist.
Linebaughs Untersuchung fokussiert auf die im 18. Jahrhundert in London an den Galgen von Tyburn gehängten Männer und Frauen. Linebaugh, der Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre am Centre for the Study of Social History an der Warwick University von E. P. Thompson, Douglas Hay und anderen marxistischen Historikern lernte und mit ihnen zusammenarbeitete, folgt mit feinem Gespür dem Zusammenhang von sich entfaltendem Kapitalismus und der Anwendung der Todesstrafe. Er ergründet „the relationship between the organized death of living labour (capital punishment) and the oppression of the living by dead labour (the punishment of capital)“, um seine Formulierung (Introduction, S. XVII) zu gebrauchen.
Kriminalität behandelt Linebaugh nicht als Polizeiproblem, ein Vorgehen, das er den an Problemen der Klassengesellschaft desinteressierten konservativen Historikern, die oftmals gar die Tatsache der Industriellen Revolution leugnen, vorwirft. Die Bestrafung der kriminell Gewordenen aus der Arbeiterklasse war ein Teil der Klassenjustiz, der Vorgang des Hängens repräsentierte den Konflikt der Mächtigen und Eigentümer mit den Schwachen und Armen, so Linebaugh. Die Kriminalisierung der Gewohnheitsrechte – verschärft durch das Hängen – war ein zentraler Bestandteil des Kampfes der Bourgeoisie für die Durchsetzung eines Systems von Privateigentum und Lohnarbeit. Keineswegs, das ist die auf ein gründliches Studium der Quellen wie von Gerichtsprotokollen gestützte Argumentation Linebaughs, handelte es sich bei den Opfern dieser Klassenjustiz um eine gesonderte Klasse von Berufskriminellen oder eines Lumpenproletariats, sondern um gewöhnliche Männer und Frauen des Proletariats, die vielfach kaum unterscheidbar waren von der Gesamtheit der Klasse. Die Struktur der Gruppe der Delinquenten unterschied sich nicht sehr von der der Londoner Unterschicht in ihrer Gesamtheit; zwischen sicheren und unsicheren Ortsteilen kann nach Linebaughs Argumentation kaum unterschieden werden. Allerdings dominierten Bevölkerungsgruppen mit einer ausgesprochenen Mobilität unter den Gehängten: Iren, Seeleute, Dienstboten, Fleischer, Weber.
Kriminalität war Ausdruck des sozialen Konfliktes, der mit der Durchsetzung der kapitalistischen Macht, des Privateigentums und des Lohnverhältnisses einherging, und war Widerstand gegen diese Entwicklung – oftmals handelte es sich (ursprünglich) um die Kriminalisierung von dem, was in der Unterschicht als Gewohnheitsrecht verstanden wurde. Linebaugh möchte Fragen von erlaubt/nicht erlaubt, des Brauches beleuchten, die erst durch das Lohnverhältnis obsolet wurden.
Kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse machten „n o r m a l e“ Menschen so arm, dass sie stehlen mussten und somit kriminell wurden. Aber die Gehängten von Tyburn waren nicht nur Opfer, sie waren als Teil der kriminalisierten Bevölkerung von London „a force, in itself, of historic changes“ (Introduction, S. XXIII). Die zur Kriminalität gezwungenen Teile der Arbeiterklasse veränderten die Gesellschaft; Linebaugh erforscht die ausgestoßenen „Kriminellen“ als Teil der Arbeiterklasse des 18. Jahrhunderts und versucht sie „vor der ungeheueren Arroganz der Nachwelt zu retten“. 1 Das Untersuchungsfeld von Thompson und Hay war in Albion´s Fatal Tree der „social crime“ unter der Landbevölkerung, der es um die Geltendmachung traditioneller Rechte ging; Linebaugh, der auch mit dem Konzept der moralischen Ökonomie arbeitet, hat sich der Frage der Verteidigung von Gewohnheitsrechten in der Metropole angenommen. 2
Tod durch Hängen in Tyburn (Tyburn ist ein Fluss, der in die Themse fließt – der Galgen stand an einer Stelle, die heute als Marble Arch bzw. als Speakers Corner im Hyde Park bekannt ist) sagte der Arbeiterbevölkerung, dass das Mitnehmen von Sachen - in der Regel handelte es sich um Sachen und nicht um Geld - nicht (mehr) geduldet wurde. Die durchaus übliche Mitnahme von Überresten der Arbeit gehörte ebenfalls dazu. Diese Sachen, ob Seide, Zucker oder Rum, konnten nicht mehr, so wie es früher gewesen war, mitgenommen werden – das Profitstreben illegalisierte solche Gewohnheiten, die zuvor als normaler Bestandteil des Arbeitsverhältnisses interpretiert wurden.
Die Todesstrafe entsprach einem bestimmten Wert – gehängt wurde ab einer Größenordnung des Diebstahls von 4 shillings und 10 pennies. Ein geringfügigerer Diebstahl wurde mit Brandmarken bestraft; noch geringere Beträge brachten die Prügelstrafe ein.
Hinter den öffentlichen Hinrichtungen des 18. Jahrhunderts – vielfach als eine Art Karneval verstanden – ist handfester ökonomischer Wandel zu entdecken. Das Auf und Ab der Handelszyklen korrespondierte mit dem Wechsel und den Veränderungen von dem, was als „semi-migrant labour“ bezeichnet werden kann.
Linebaugh studierte für den Zeitraum 1703 bis 1772 die Fälle von 1242 Männern und Frauen, die an 243 Tagen in London gehängt wurden. Davon waren 483 gebürtige Londoner, der Geburtsort von 429 lag in England (außer London), 171 waren gebürtige Iren (vielfach aus Dublin). 14 % der Gehängten stammten mithin aus Irland. „London was the vortex of English imperialism, which began in the Irish Sea. London also had a changing place within the social division of labour in two respects – agricultural provisioning and textile production”(S. 94).
An Tyburns Galgen wurden ganz normale Proleten gehängt, aber ganz normal waren sie eben auch wieder nicht: Der hohe Prozentsatz der Iren, mehr als ⅓ hatten eine apprenticeship (Lehre) begonnen und die internationale Zusammensetzung der Gehängten war stärker als in der arbeitenden Bevölkerung in London. Außenseiter wie Iren, Seeleute und Weber waren überproportional vertreten – sie konnten sich offensichtlich mit der zeitorientierten und industriell geprägten Arbeitsdisziplin und der Zerstörung von Gewohnheitsrechten schwerer abfinden als andere.
Auf dem Weg zur modernen Arbeiterklasse – zumindest der des 19. Jahrhunderts – eruiert Linebaugh Zwischenformen wie die des „picaresque proletariat“ (picaresque vom spanischen piquero, dt.: Pikenier oder Pikenträger). Kollektive und individualistische Momente traten zusammen. So werden die Fleischer eher der Kategorie Plebejer als der des Proletariats zugeordnet. Sie waren oft mobil, verfügten in der Regel über einen eigenen Verkaufsstand, Handwerkszeug etc., ein Zustand, der sich erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Gunsten eher proletarischer Arbeitssituationen änderte. Auch im kollektiv geprägten Arbeitsleben der Seeleute – überhaupt eine Gruppe, die zu den ersten kollektiv Arbeitenden zu zählen ist - findet Linebaugh starke individualistische Anteile. Sie waren brutalsten Arbeitsbedingungen und der Forderung nach nahezu sklavischer Disziplin ausgesetzt.
Der Kapitalismus eroberte die Gesellschaft von innen, durch die bestehenden Institutionen der Gesellschaft, durch Gerichte, Gefängnisse, Arbeitshäuser, durch den Galgen und durch Deportationen, flankiert von der Idee des Privateigentums und mit Hilfe der Arbeitswerttheorie. Die Vertreter der Bourgeoisie saßen selbst zu Gericht, sie führten die Verhandlung und sprachen das Urteil. Die Gerichte waren im wahrsten Sinne des Wortes auch in der Frage der personellen Zusammensetzung Teil einer Klassenjustiz.
Die Arbeitshäuser waren Plätze der Einkerkerung und Orte der Bestrafung. Der Workhouse Act von 1723 hatte das Einkerkerungsprinzip bestätigt. Das Strafgesetzbuch Wilhelm III. hatte endgültig die Grundlage für den engen Zusammenhang von Geld, d. h. der Summe, die dem Diebesgut oder einem Verbrechen entspricht, und der Todesstrafe gelegt. Die Todesstrafe diente der Verteidigung des Eigentums, das klar als Regierungsziel definiert war.
Linebaugh zieht hier eine Trennungslinie zwischen „social criminals“ (gewissermaßen primitive politische Rebellen) und „criminal criminals“.
Da ist der Fall von Jack Sheppard, Dieb und Ausbrecherkönig. Linebaugh versteht es, die Geschichte Sheppards – im 18. Jahrhundert war er eine Berühmtheit und Gegenstand etlicher Biographien, Stücke, Balladen etc. - in einen allgemeinen Zusammenhang einer gewalttätigen Geschichte des Widerstands gegen Fabrikdisziplin und überwachende Gesellschaftsinstitutionen zu stellen.
„Incarceration“ wird von Linebaugh als proletarischer Kontrapunkt zu den oppressiven Panopticon-Strategien eines Jeremy Bentham, als Fluchtbewegung („escapes, flights, desertions, migrations and refusals“, S. 23) begriffen. Das von Bentham entwickelte panoptische System beruhte auf einer Gefängnisanlage, die die Illusion der ständigen Überwachung vermitteln sollte. Es war übertragbar auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Institutionen wie Besserungsanstalten, Armenhäuser, Werkstätten, Manufakturen, Irrenhäuser, Lazarette, Krankenhäuser und Schulen. Sheppard war ein Vertreter der von Linebaugh angeführten Gegenstrategie; er kam aus Spitalfields, einem Zentrum der Seidenweberei und einer radikalen Subkultur, Erbe rebellischer Traditionen, und hatte früh Erfahrungen im Arbeitshaus von Bishopsgate gesammelt. Sheppard steht synonym für den Freiheitswillen derjenigen, die sich nicht dem System unterwarfen, die widerständig waren.
Linebaugh selbst setzt mit seiner Untersuchung einen Kontrapunkt und zwar zu Michel Foucaults Thesen einer Allgegenwart der Macht und ihrer Allmacht in Regierung und Gesellschaft, die mit Gefangensetzung und Kontrolle arbeitet. Die Macht kommt von unten, formulierte Foucault. Keineswegs kann man Foucault zustimmen, betrachten wir wie Linebaugh den Fall des genialen Ausbrechers und Flüchtlings Sheppard genauer.
Linebaugh lässt vielfach die soziale Situation erkennbar werden; so erfährt der Leser einiges über die Arbeitsbedingungen, die Lebensbedingungen, Verdienst und gesundheitliche Lage einzelner Berufsgruppen wie der Seeleute. Er konzentriert sich mitunter auf Einzelschicksale, arbeitet aber auch mit statistischem Material. Er präsentiert übersichtliche Grafiken und Karten, aus denen z. B. die lokale Verteilung der Geburtsorte der Gehängten im Londoner Raum zeigen. Diagramme wie das über die Berufszugehörigkeit der Gehängten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in Prozentzahlen bieten weitere Information.
Linebaughs faszinierende Kombination breiter empirischer Belege mit einer theoretischen Durchdringung des Materials ist eine gut lesbare Geschichtsschreibung, die intellektuell anregend ist. Kaum könnte man mehr verlangen.
Was etwas zu kurz kommt in Linebaughs hervorragender Sozialgeschichte, ist die Gedankenwelt, sind die Modelle und Theorien der sich bewusster mit Alternativen zur jeweils existierenden gesellschaftlichen Organisation beschäftigenden Individuen und Gruppen. Linebaugh ist sich der Tradition radikalen Gedankenguts bewusst; er erwähnt die Levellers mehrfach. Es ist aber vermutlich ein Ergebnis der Spezialisierung in den Geschichtswissenschaften, dass die Untersuchungsfelder von Sozial- und Ideenhistorikern sich zwar vielfach überlappen, dass eine umfassende und integrierende Untersuchung aber noch schwer fällt.
In der Einführung zur Neuauflage des Buches schreibt Linebaugh, dass der Anstieg der weltweit verhängten Todesstrafen seit den 1970er Jahren in Verbindung mit der Globalisierung des Kapitalismus zu sehen ist. So wie das Proletariat des 18. Jahrhunderts in Konflikt mit sich wandelnden Definitionen von Eigentum, Rechten und Arbeit geriet, so ergeht es heute den Arbeitern und Arbeiterinnen im nachkolonialen Afrika, Asien und Lateinamerika.
Anmerkungen:
1 Thompson, Edward P. , Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Bd. 1, Vorwort, Frankfurt am Main 1987, S. 11.
2 Hay, Douglas u. a., Albion´s Fatal Tree. Crime and Society in Eighteenth-Century England, New York 1975.