Die Schweizer Dissertation aus Luzern liefert eine aus praktischer Perspektive angelegte Monographie zu Art. 9 EMRK. Sie geht auch auf Basler, finnische und deutsche Erfahrungen des Autors zurück, letztere im Seminar bei Alexander Hollerbach in Freiburg. Sie widmet sich naturgemäß vor allem der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs, beschränkt sich aber nicht darauf. Sie zieht auch die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, des UNO-Menschenrechtsausschusses, des US-amerikanischen Supreme Court, des deutschen Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg sowie der früheren Europäischen Menschenrechtskommission heran. Ein Entscheidungsregister gibt vollständige Auskunft über das verwendete Material. Auch die internationalen und die eidgenössischen Grundrechtsnormen sind im Anhang in amtlichen Sprachen abgedruckt. Hinzu kommt ein Schlusskapitel, das die Thesen des Buches enthält und rückverweist in die einzelnen Kapitel.
Relativ breit werden die Grundlagen und die allgemeinen Fragen des Grundrechtsschutzes (immer orientiert auf die Religionsfreiheit) erörtert, um erst gegen Ende auf exemplarische Felder konkreter Konflikte einzugehen. Die Grundlagen umfassen einen Abschnitt zur Vielfalt der Staat-Kirche-Beziehungen, einen zum Vergleich mit dem Recht der Europäischen Union, sodann einen solchen zu Menschenrechtskonzepten als Begrenzung des Anwendungsbereichs der EMRK, darauf einen solchen zu Funktionsweise und Stellung der EMRK im System des Menschenrechtsschutzes und schließlich einen letzten zu den Beschwerdeformen im Rahmen der EMRK.
Darauf folgt ein zweiter grundlegender Teil zur Religionsfreiheit, der sich befasst mit der Auslegung dieses Grundrechts, seinem Schutzbereich und seinen Einschränkungen und deren einzelnen Erfordernissen, darauf der Gewissensfreiheit und der Gedanken- und der Weltanschauungsfreiheit. Darauf folgt der letzte Teil zu den ausgewählten Problembereichen, beginnend mit der staatlichen Verpflichtung, Religionen vor anderen zu schützen, darauf einem Abschnitt zu Art. 9 EMRK und dem Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK, anschließend einem solchen zum Kriegdienstverweigerungsrecht aus Gewissensgründen, dann zum Schächtverbot sowie zu Fragen der Moral, zur Religionsfreiheit in Schulen, zum Kopftuch in der Schule und schließlich zu den Rechten der Gefangenen. Diese Auswahl, die auch durch das Interesse aus eidgenössischer Perspektive geprägt erscheint, fassen die Schlussfolgerungen im letzten Teil die Ergebnisse der Arbeit thesenartig zusammen.
Was die Arbeit auszeichnet, ist die jeweils gewählte Perspektive: Sie setzt ein mit einer Außenperspektive zu den verschiedenen staatskirchenrechtlichen Systemen, dann zur EMRK in einem mondial verstandenen Menschenrechtsschutz und zuvor auch im Verhältnis zum Recht der Europäischen Union, wobei hier die Entwicklung einer indirekten Kontrolle an Maßstäben der EMRK durch den Straßburger Gerichtshof neben dem Weg zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union – nicht aber schon die Europäische Verfassung im Sinne des zur Ratifikation anstehenden Vertrages von Rom einbezogen ist. Auch die intensive Befassung mit dem Schutzbereich der jeweils einschlägigen Grundrechte ist zu begrüßen. Außerdem ist die Untersuchung von einer vertieften und fruchtbar gemachten Kenntnis der Rechtsprechung aus Straßburg geprägt und verbindet dies mit einer vergleichenden Perspektive aus Schweizer Sicht.
Auf der anderen Site liegt sicher eine Schwäche des Buches darin, dass es einzelne Fragen nur mit einer geringen Tiefe bearbeiten kann. Dies ist allerdings der begrüßenswerten Überschaubarkeit geschuldet. Beides – Tiefe und Überschaubarkeit – zu vereinbaren, erscheint unmöglich. Die Distanz wird gerade durch die Perspektive gesichert, ohne deswegen oberflächlich zu werden. Distanz und Perspektive erlauben auch, unterschiedliche Lösungen und Antworten nebeneinander stehen lassen zu können, wie es der margin of appreciation, dem Beurteilungsspielraum des jeweiligen Gemeinwesens unter einem übergreifenden Regime einer völker- oder auch europarechtlichen Freiheitsgewähr entspricht. Das vermittelt dem Buch zugleich die Liberalität, auf die man sich verstehen muss, will man die Vielfalt der Lösungen wirklich verständlich machen. Daher überzeugt das Buch auch, weil sein Gegenstand – eben jene übergeordnete Freiheitsgewähr – zugleich seine Methode bestimmt und so nicht nur die Sache, sondern auch die gebotene Wahrnehmung vermittelt, die dann im Einzelfall sozusagen die Mentalität des Betrachters prägt. Außerdem hat diese Methode auch Rückwirkungen auf die Auslegung der übergeordneten Freiheitsgewährleistungen, indem die Rechtsfortbildung nicht vor den internationalen Gewährleistungen halt macht, so dass etwa aus der Sicht der Arbeit Elemente des Kriegsdienstverweigerungsrechts oder einer Inanspruchnahme religiöser Symbole im öffentlichen, nicht von staatlicher Seite allein geprägten Raum in den Schutzbereich der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK geraten können. Außerdem geht die Arbeit unter Berufung der Religionsfreiheit davon aus, dass Konflikte nur gegebenenfalls in concreto, nicht präventiv abstrakt abzuarbeiten sind. Das gilt nicht nur für religiöse Symbole, sondern auch für die Schulpflicht und den Ämterzugang. Eine differenzierte Zuordnung hat regelmäßig mit Rücksicht auf die Religionsfreiheit stattzufinden. Das führt ersichtlich zu einer Fortbildung der Religionsfrei-heit, die Ausübung und Inanspruchnahme ihrer Gewährleistungen erleichtert und erweitert, ohne durch eine neue Parität die Früchte dieser Entwicklung zugleich notwendig nur den etablierten Religionen, die mit einer freiheitlichen staatlichen Ordnung im westlichen Sinne zu leben gelernt haben und auch staatliche Anerkennung gefunden haben, allein zukommen zu lassen. Allerdings hat die Verlagerung vieler Positionen in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK auch die Folge, dass der Spielraum der Konventionsstaaten schrumpft, etwa zu laizistischen Lösungen zu greifen. Dies kann die Akzeptanz des menschenrechtlichen Regimes schwächen und auch zu einer Schmälerung der Bandbreite möglicher Gestaltungen des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgesellschaften führen. Das wiederum kann die Legitimation eines Gemeinwesens erschüttern. Es bleibt mithin nur, die Gratwanderung zwischen einem strikten und durchgreifenden internationalen Menschenrechtsregime und Gestaltungsspielräumen der Staaten in der gebotenen Rücksicht auf die Staaten und die in ihnen virulenten Kulturen zu bewältigen – mithin einerseits in Rücksicht auf das internationale Menschenrechtsregime, andererseits aber auch im Blick auf die spezifische Situation im eigenen Territorium und im Rahmen der Traditionen dieses Territoriums sozusagen im Sinne einer religionspolitischen lex terrae – und die lex terrae bindet bekanntlich alle Herrschaft ihres Gebiets.
Nach allem eine Schrift, die als wissenschaftlicher Erstling doch eine gewisse Meisterschaft erreicht, indem sie die dem Gegenstand angemessene Sensibilität entwickelt und damit einen erfreulichen Beitrag zur Durchdringung jüngerer Aspekte der Religionsfreiheit leistet.