Der Begriff Globalisierung ist in den letzten Jahren immer mehr zu einem Schlagwort geworden, das in Politik, Wissenschaft und Feuilletons, von Befürwortern und Gegnern gleichermaßen benutzt wird, sei es um die volkswirtschaftlichen Vorteile der transnationalen Ökonomie zu betonen oder um auf die Bedrohung einer zunehmenden weltweiten sozialen Polarisierung hinzuweisen. Was Globalisierung wirklich ist und wie sich das abstrakte, meist in statistische Daten aufbereitete Phänomen konkret vor Ort darstellt, ist jedoch noch wenig bearbeitet. Gerade Untersuchungen der lokalen Situationen innerhalb globaler Transformationsprozesse sind allerdings notwendig, um die Dynamik sozialer und kultureller Prozesse, die globalen Einflüsse auf lokale Entwicklungen und umgekehrt zu verstehen.
Das Buch „De-Coca-Colonization – Making the globe from inside out“ von Steven Flusty ist ein positiver Schritt diese Lücke zu füllen. Flusty untersucht die komplexen globalen Prozesse auf der Ebene lokaler Alltagspraktiken. Die Betonung des Plurals – er spricht von Globalisierungen oder everyday globalities – macht seine Haltung deutlich: Globalisierung betrachtet er keinesfalls als eine Homogenisierung (oder gar Amerikanisierung) von Kultur, vielmehr interessieren ihn die vielschichtigen lokalen Übersetzungen von globalen Konzepten, Diskursen und Produkten. Er wendet sich in diesem Sinn auch gegen die eindimensionale und mit einer Unausweichlichkeit behaftete Sichtweise auf die Coca-Colonization – ein alternativer Begriff für die spezifische (post)moderne Art der Kolonialisierung, die auf der weltweiten Verbreitung spezifischer Warenströme fußt – und nimmt eine kritische Position innerhalb des Systems ein, um von dort aus lokale Aneignungsstrategien und globale Widerstandsformen aufzuspüren.
Flusty´s Arbeit lässt sich deutlich im Kreis der „Los Angeles School of Urban Theory“ verorten. Die für ihre postmodernen Ansätze bekannte „LA School” gab sich ihren Namen in Anlehnung an die “Chicago School of Sociology”, deren Mitarbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne Einwandererstadt Chicago als Modell für theoretische und empirische Studien einer universalen Stadtforschung betrachteten. Für die LA School ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts die metapolis Los Angeles das Modell gegenwärtiger und zukünftiger globalisierter Urbanität. Auch Flusty ist fasziniert von dieser Migrations- und Medienstadt und macht aus ihr den absolut geeigneten Untersuchungsgegenstand. In der Frage nach dem Verhältnis von Einzigartigkeit und Übertragbarkeit der Situationen in der real city Los Angeles wird die Unterscheidung zwischen theoretischem Konstrukt und sozialer bzw. räumlicher „Realität“ allerdings deutlich. Offenbar lässt Flusty in der Trennung zwischen metapolis und rela city die Bedeutung und den Einfluss von Vorstellungen, auch im Sinne von Stadt als globaler Projektionsfläche, für die alltäglichen Handlungen der Bewohner außer Acht.
Den spezifischen Blick maßgeblicher Forscher der LA School wie beispielsweise Michael Dear und Edward Soja teilend, zeichnet sich der theoretische Zugang Flusty´s durch eine vielschichtige Mischung von Ansätzen aus Philosophie, Literatur-, Film-, und Kunstwissenschaften, Architekturtheorie und Geographie sowie empirischen Methoden der qualitativen Sozialwissenschaften und der Ethnologie aus. Flusty, selbst Geograph, bezieht sich in der Verwendung neomarxistischer Theorien auf Stadt- und Raumtheoretiker wie Henri Lefebvre, Manuel Castells und David Harvey, auf die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein und auf die metaphorische Definition fließender Räume, wie sie Arjun Appadurai mit dem Begriff scapes umschreibt. Seinen analytischen Rahmen beschreibt er als einen „materialistischen Poststrukturalismus“ oder einen „diskursiven Materialismus“, mit dessen Hilfe er Raum als ein Medium untersucht, in dem die Dinge das Denken beeinflussen, in dem bestimmte Bilder produziert werden und in dem gleichzeitig Bedeutungszuschreibungen reproduziert werden (S.12).
Als eine methodische Herangehensweise bedient sich Flusty der psycho-geographischen Studien der französischen Situationisten der1950er Jahre, die mittels bestimmter mit Regeln versehener Spaziergänge (dérives) versuchten die Beziehung zwischen urbaner Umwelt und psychischer Wahrnehmung zu erfahren. Flusty weitet das Umherschweifen auf den Planeten aus und schweift auch zwischen den Theorien hin und her. Die Methode der Situationisten ist als methodische Stadterkundung zu empfehlen, sie verliert aber in Flusty´s Übertragung auf theoretische Ansätze und gibt der Arbeit an einigen Stellen einen ungenauen und flüchtigen Anschein (beispielsweise bei den verkürzten und kontextlosen Verweisen auf philosophische Ansätze von Deleuze, Derrida oder Lyotard). Eher negativ fällt in diesem Zusammenhang auch der gewöhnungsbedürftige Sprachstil des Buches auf. Der Zugang zum reichen Wissen Flusty´s wird durch das oft abstrakte Umherschweifen zwischen Theorien und eigenen Wortkreationen, vor allem aber durch den zuweilen lockeren Jargon postmoderner Akademiker vor allem in einigen theoretischen Abschnitten erschwert.
Ganz anders bei den dichten Beschreibungen lokaler Situationen in ihren jeweiligen historischen oder politischen Kontexten: Hier hat das Umherschweifen und Beobachten ethnographische Qualitäten. Flusty setzt eine Reihe von Feldforschungstechniken wie teilnehmende Beobachtung, biographische Gespräche, Netzwerkstudien und Studien materieller Kultur ein, um die Bedeutung der Dinge auf den unterschiedlichen Ebenen zu verfolgen. Dieses methodische Herangehen knüpft an Arbeiten Appadurai´s zur Einbettung materieller Kultur in lokale Narrative an, erinnert aber auch an die Ansätze der „multi-sited ethnography“ von George Marcus, der als ethnographische Methode vorschlägt bestimmten Dingen, Menschen, Diskursen oder Narrativen zu folgen, um die Komplexität von lokalen Alltagspraktiken innerhalb eines Weltsystem zu verstehen (vgl. Marcus 1995).
Ein zentraler Ansatz in dem Text – und hier ist der Geograph ganz Geograph – ist die Bedeutung des Raumes, auch wenn dieser nicht immer rein physisch oder materiell zu verstehen ist. Flusty beschreibt die Enträumlichung der globalen Prozesse mit dem Begriff „dislocated“. Ausgehend von der transnationalen oder auch translokalen Eigenschaft der Globalisierung, benutzt er den Begriff „nonlocal“ aus der Quantenphysik, der simultane Erscheinung eines bestimmten Ereignisses an einem oder mehreren Orten, die in Zeit und Raum voneinander entfernt sind, beschreibt. Damit sind die Ereignisse nicht an spezifische Orte gebunden und können als „dislocated“ behandelt werden.
Die Stadt ist allerdings ein Feld in dem sich die nicht-lokalen Ereignisse überlappen, sich gegenseitig bedingen und spezifische Gruppen (cluster) formen. Die Stadt, das meint den physischen und materiellen Raum, aber auch die urbanen Diskurse werden zu einer Abbildungsfläche globaler Prozesse. Flusty beschreibt die Beziehung zwischen globalen Diskursen und dem Wandel städtischer Landschaft. Ein deutliches Beispiel hierfür, das sich in Berlin, Mexiko City oder Wien ähnlich darstellt, ist das Thema Sicherheit. Am Beispiel von Los Angeles zeigt Flusty wie Sicherheit zunächst als ein Grundbedürfnis spezifischer städtischer Bevölkerungsschichten formuliert wird, um sich im folgenden in der Architektur, aber auch in der sozialen Interaktion und den Vorstellungen von städtischem Raum zu spiegeln bzw. zu materialisieren. Jahr für Jahr werden die Eingangskontrollen zu Privathäusern mit größerem technischen Aufwand betrieben, High-tech-Überwachungen und Monitorsysteme, private Wachschutzgesellschaften und gated-communities sind Werkzeuge, die als Elemente zur Sicherheit des „öffentlichen“ Raumes eingesetzt werden. Es entstehen laut Flusty „verbotene Räume“ (interdictonary spaces), wie beispielsweise moderne Shopping Malls, die so gestaltet sind, dass sie die Benutzer filtern, sondieren und unerwünschte Menschen ausschließen. Das ist ein Beispiel für die Verdichtung globaler Prozesse in der Stadt, wie sie auf der lokalen Ebene übersetzt werden und schließlich im physischen Raum selbst ablesbar sind.
Flusty nennt andere Beispiele für alltägliche Globalisierungen, die zwar vor dem Hintergrund eines urbanen Lebenstils stattfinden, aber nicht notwendigerweise an die materielle Stadt gebunden sind. In dichten, spannenden und auch persönlichen Beschreibungen verfolgt er die Wege und Zusammenhänge einzelner Dinge. Da ist zum Beispiel die Geschichte eines traditionellen, von ihm selbst langersehnten, philippinischen Hemdes (barong), das schließlich über ein Zusammenspiel der Folgen globaler Konsumkultur – sei es in Form von Musik oder von Automobilen – transnationaler sozialen Netzwerker und (sub)kultureller Phänomene einer städtischen Lebensweise in seinen Besitz gelangt. Die genaue Beschreibung des Produktes, des historischen und politischen Kontextes und der jeweiligen lokalen gesellschaftlichen Vorstellungen führt auch in dem Beispiel einer japanischen Süßigkeit – ein Bonbon in den Geschmacksrichtungen schottischer Whisky und nepalische Kräuter – zu einer bildhaften und beeindruckenden Darstellung der komplexen Verknüpfungen zwischen wirtschaftlichen Interessen, globalen Strömungen und lokalen Übersetzungen.
Im letzen Teil des Buches fragt sich Flusty nach den Grenzen der Coca-Colonization bzw. möglicher Widerstandsformen gegen die gezielte globale Verbreitung von spezifischen Waren. Unter anderem beschreibt er einem spannenden Politthriller ähnlich die weltweiten Verknüpfungen, Kampagnen, Erfolge und Misserfolge des globalen Sportschuhkonzerns „Nike“. An diesem Beispiel zeigt er, dass es gerade die fließenden und situativen Prozesse der Globalisierung sind, die immer wieder zu neuen Strategien von Widerstand führen können. Denn bei all ihren unterschiedlichen Formen und Geschwindigkeiten sind Globalisierungsprozesse – und das ist für Flusty ein wesentlicher positiver Aspekt – nicht kalkulierbar. An jedem Ort können informelle Praktiken, spontane Übersetzungen und Netzwerke entstehen, die Flusty als Ausdruck der globalisierten Unzufriedenheit sieht und unter dem Begriff der „temporären autonomen Zonen“ von Hakim Bey zur Diskussion stellt. Als Beispiele erwähnt er die temporären Erfolge politischer Bewegungen wie der EZLN im mexikanischen Bundesstaat Chiapas oder die in großem Maße über das globale Kommunikationsmittel Internet organisierten Protestdemonstrationen einer Anti-Globalisierungsbewegung in Seattle und Genua. In den „reisenden Dissidenten“ und ihres „mobilen Karnevals“ sieht er eine alternative Form der Globalisierung. Hier stellt sich allerdings die Frage nach dem Potenzial der als Karneval bezeichneten globalen Widerstandsstrategien. Denn ist nicht die performative Veränderung der Welt im Karneval, ein festgelegter ritualisierter Ausbruch, der nach Beendigung des Festes vor allem systemerhaltend funktioniert? Und meint Flusty nicht viel mehr gerade die Unkalkulierbarkeit der lokalen Alltagspraktiken, wenn er zum Abschluss seines Buches die Neugier gegenüber allem Fremden, Ungewohnten, Neuen, die Xenophilie, als Chance für die positive Erfahrungen vielfältiger Details alltäglicher Globalisierungen propagiert?!
Ein großes Verdienst dieses Buches sind seine vielschichtige Beschreibung der Auswirkungen und Formen von Globalisierung und die dichte Erzählweise der empirischen Beispiele. Wünschenswert und notwendig sind weitere, vielleicht noch dichtere ethnographische Beschreibungen lokaler Alltagspraktiken in Wechselwirkung mit globalen Prozessen. In diesem Sinn ist das Buch ein sehr wichtiger Wegweiser und eine unterhaltsame Inspiration für weitere Forschungsfelder.
[1] George Marcus: Ethnography in/ of the World System – The Emergence of Multi-sited Ethnography, in: Annual Review of Anthropology 24 (1995), S. 95–117.