Über manche Bücher wäre es besser, den Mantel des Schweigens zu breiten. Ihre Zahl hat in Zeiten, in denen auch bedeutende Wissenschaftsverlage den spürbaren Rückgang an verkauften Exemplaren durch ein Mehr an Produktion bei gleichzeitigem Verzicht auf ein Lektorat auszugleichen versuchen, eher zugenommen. Muss man all diese Werke besprechen? Man sollte es dennoch tun, wenn man nicht im Geiste der Beliebigkeit die Frage nach wissenschaftlicher Qualität für eine mittlerweile unbedeutende hält.
Beginnen wir diese Besprechung aber mit etwas Positivem. Ruth Leiserowitz hat eine umfangreiche Materialsammlung vorgelegt, auf deren Grundlage man ein Buch über die Rezeption der Napoleonischen Kriege in den Gebieten des geteilten Polens und in der Zweiten Polnischen Republik schreiben könnte. Die „evaluierten Erinnerungen und Romane“, wie sie die Autorin in unbewusster Bezugnahme auf die Technokratensprache der Wissenschaftsfabriken des frühen 21. Jahrhunderts nennt, stellen ein umfangreiches, bisher nicht systematisch untersuchtes Konvolut von Texten dar, deren Analyse in Zukunft einmal zumindest teilweise wird verständlich machen können, warum der Ruhm des „großen Korsen“ bis fast in die Gegenwart hinein in kaum einem europäischen Land außer Frankreich derart deutlich spürbar war wie in Polen, obwohl der Feldherr doch eher ein pragmatisches Verhältnis zu dessen Bewohnern pflegte.
Entstanden ist das Buch als spätes Ergebnis einer Reihe von Forschungen zur europäischen Erinnerung an die napoleonischen Kriege zwischen 1815 und 1945, die zwischen 2005 und 2008 an Freien Universität und der Technischen Universität Berlin durchgeführt wurden. Dabei sollten in erster Linie die unterschiedlichen Medien der Erinnerung in den Blick genommen werden.
Leiserowitz, stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Warschau, möchte in ihrem Text vier zentrale Thesen untersuchen: Der historische Roman sei ein zentrales Medium für die nationalen Aspekte der Erinnerung gewesen, es habe sich nach 1815 erstmals ein nationaler Buchmarkt herausgebildet, dies wiederum habe zur Schaffung einer „eigenen polnischen Identität“ beigetragen und es hätten sich damals in allen europäischen Nationen am Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis „Meistererzählungen“ entwickelt. Klären möchte sie diese Fragen durch getrennte quantitative und qualitative Analysen von autobiographischer und schöngeistiger Literatur. Dabei möchte sie fünf Personen bzw. Motive genauer in den Blick nehmen: Adam Mickiewiczs Nationalepos „Pan Tadeusz“, die Bewegung der „Legionäre“, den „alten polnischen Osten“, den Nationalhelden Tadeusz Kościuszko sowie Napoleons Geliebte Maria Walewska.
Nehmen wir das Gesamturteil hier bereits vorweg. Kaum einen dieser Ansprüche kann die Autorin im Folgenden einlösen. An ihrer intensiven Beschäftigung mit dem Thema kann kein Zweifel bestehen: Auf 150 Seiten Text kommen sage und schreibe 965 Fußnoten. Eigene Gedanken wird man – auch deshalb – nur wenige finden. Eine tiefergehende Analyse sowohl des Gesamtthemas als auch der behandelten Werke findet nicht statt. Stattdessen entsteht der Eindruck, die Autorin habe einfach ihre Exzerptsammlung publiziert. Leider stammt aber nicht jeder Zettelkasten von Niklas Luhmann. In den mitunter nur zwei bis drei Sätze umfassenden Unterkapiteln werden im Wikipediastil Fakten zusammengetragen. Im Unterschied zur populären Online-Enzyklopädie sind die Angaben freilich wesentlich detailverliebter, dadurch allerdings auch problematischer, was bestimmte Gewichtungen angeht. Zudem ist der sprachliche Eindruck des Textes negativ. Dabei geht es weniger um Rechtschreib- und Kommafehler (die vereinzelt auch vorkommen)1 als um die Sätze als solche. Manche erweisen sich bei genauerem Nachdenken als sinnfrei oder erinnern an Stilblüten.2
Diese Mängel sind offensichtlich, es wäre aber vielleicht möglich, darüber irgendwie hinwegzusehen, wenn das Hauptproblem des Buches nicht an einer anderen Stelle läge: der völlig unreflektierten Übernahme der verwendeten Begriffe verbunden mit einer kritiklosen Aneignung nationaler Narrative der polnischen Romantik.
Dass die Unmenge an Literatur zu Erinnerungskultur(en) hier nicht komplett rezipiert und analysiert werden konnte, ist verständlich. Sich aber fast ausschließlich auf die – durchaus verdienstvollen und innovativen – Arbeiten Astrid Erlls zur Medialität von Erinnerung zu stützen3 und diese dann auch noch auf wenige einprägsame Formulierungen zu reduzieren, ist aber doch gewagt. Hinzu kommt, dass bestimmte historische Ereignisse oder Prozesse verkürzt oder falsch wiedergegeben werden. Die These, die Napoleonischen Kriege seien die ersten gewesen, die europaweit geführt wurden (S. 16), ist so absurd, dass eine Widerlegung gar nicht lohnt. Der Kościuszko-Aufstand von 1794 war sicher nicht der erste Versuch, „die polnische Gesellschaft aus eigenen Kräften zu modernisieren“ (S. 18), gab es doch im Grunde schon im 17. Jahrhundert, spätestens aber unter der Herrschaft Stanisław August Poniatowskis nach 1764 ernsthafte Reformansätze. Den Helden-Begriff, der dem Band den Titel gab, verwendet Leiserowitz ebenso wie den nicht näher definierten Identitätsbegriff völlig unkritisch und hinterfragt kaum einmal die Funktion von solchen Stilisierungen. Dass es solche Helden vor den Teilungen nicht gegeben habe (S. 20), lässt eine breitere Kenntnis frühneuzeitlicher Diskurse vermissen. Erinnert sei nur an den Kult um den „Türkenbezwinger“ Johann III. Sobieski, der durchaus auch nationale Züge trug. Die Bemerkung, die Napoleonischen Kriege hätten in Polen im Grunde zwei Jahrzehnte gedauert, während sie etwa in Russland nur eine „kurze Phase“ dargestellt hätten (S. 23), macht Dauer zur entscheidenden Kategorie, wo doch das Trauma von 1812 die russische Geschichte im Grunde bis heute prägt. Solche Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, besonders wenn die Heldengeschichten des 19. Jahrhunderts unkritisch weitergesponnen werden. Schon die Zeitgenossen wussten etwa, dass Kościuszko den berühmten Ruf „Finis Poloniae“ nie ausgestoßen hat. Da Leiserowitz aber Leben von und Erinnerung an den berühmten Feldherren auf acht Seiten abhandelt (S. 142–150), kann sie auch nicht so nuanciert argumentieren wie etwa Halina Florkowska-Frančić in ihrem Aufsatz zum Kościuszko-Gedenken, den sie aber nicht benutzt hat.4
Selbst wenn man aber all diese Untiefen, Zweideutigkeiten und Schwächen scholastisch ausblendet und den Blick auf die Analyse der Publikationen legt, die sich in irgendeiner Form mit der Zeit zwischen 1794 und 1814 beschäftigen, bleiben Zweifel. Im Mittelpunkt soll zunächst die Auswertung historischer Romane stehen, dann wird das Augenmerk aber wieder auf Selbstzeugnisse gelenkt, später geraten Gedichte, Dramen, Theaterstücke und Filme in den Blick. Geographisches Zentrum soll das russische Königreich Polen mit Warschau sein, „da hier die wesentlichen Bücher zum Thema produziert, zensiert, gelesen und diskutiert wurden“ (S. 15). Später scheint die Autorin aber zu merken, dass das so nicht stimmt, und ihr Blick weitet sich auf Galizien und sogar das preußische Teilungsgebiet und die Emigration. Die statistischen Angaben, die sie hierzu gibt, sind zwar nicht uninteressant, stammen aber nicht aus eigenen Forschungen. Die Diagramme, die sie zu der Anzahl der Selbstzeugnisse bzw. Romane erstellt, lassen gewisse Aussagen zu, wie zentral man die Ergebnisse angesichts der geringen Stückzahl der gefundenen Werke aber für Nationsbildungsprozesse und Leseverhalten einordnet (132 bzw. 90 Titel), sei einmal dahingestellt.5
Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Rezension können weitere Monita wie die Idealisierung der „kresy“, die zahlreichen Wiederholungen oder der unklare Europabezug nur angerissen werden. Es sei aber noch vermerkt, dass an einigen wenigen Stellen sichtbar wird, was inhaltlich möglich gewesen wäre, selbst wenn man sich in kulturwissenschaftlichen Fragestellungen nicht so auskennt. Die Gegenüberstellung der Erzählperspektiven von Adam Mickiewicz (im Register: Mieckiewicz) und Stefan Żeromski zeigt, wie unterschiedlich Bewertungen der breit verstandenen napoleonischen Zeit in Polen ausfallen konnten. Die Kurzanalyse von Wacław Gąsiorowskis in Deutschland völlig unbekanntem Roman „Maria Walewska“ macht sichtbar, wie eine Darstellung verschiedener Inhalte und Erklärungsmotive auch hätte aussehen können.
Alles in allem können die wenigen positiven Ansätze jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein Thema nicht nur weitgehend verschenkt wurde, sondern auch einfach nur ein ärgerliches Buch entstanden ist.
Anmerkungen:
1 Korzoń statt Korzon (passim); Stefan statt richtig Stanisław Brzozowski (S. 105); Ochrona statt Ochrana (S. 95). Eine Polenhistorikerin sollte zudem wissen, dass spätestens seit den Arbeiten Michael G. Müllers in den 1980er-Jahren die Bezeichnung „polnische Teilungen“ wegen ihres falschen Bezugs in der Fachöffentlichkeit nicht mehr verwendet wird.
2 Um nur einige Beispiele zu nennen: „Die polnische Erinnerung weist […] zwei Hauptperioden der Erinnerung auf“ (S. 71), „Die Tatsachen, die der Spieler in Erinnerung ruft […] sollen dem Leser […] Ereignisse […] in Erinnerung rufen“ (S. 83); „Zahlreiche Details liefern Wissen über geschichtliche Tatsachen“ (S. 100); „Er [Der Bürger; MK] erfuhr wie keine Generation vor ihm, dass zwischen Vergangenheit und Zukunft eine Differenz lag“ (S. 164). Hinzu kommt die durchgängige Verwendung von „kam es zu“-Sätzen, ohne die Akteure zu benennen.
3 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Eine Einführung, Stuttgart 2005.
4 Halina Florkowska-Frančić, Das Gedenken an Tadeusz Kościuszko in Polen und im Ausland (1817-1917), in: Martin Aust (Hrsg.), Verflochtene Erinnerungen, Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009, S. 69–95.
5 An anderer Stelle ist von 133 belletristischen Werken, davon 90 Romanen und 45 Jugendromanen die Rede. Die Kategorien als solche werden nicht erklärt. Man muss nicht Hayden White gelesen haben, um die Problematik der Abgrenzung von Erinnerungsliteratur und Belletristik zu kennen.