A. Märker: Europäische Zuwanderungspolitik und globale Gerechtigkeit

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Title
Europäische Zuwanderungspolitik und globale Gerechtigkeit. Über die normative Dimension der Vergemeinschaftung zuwanderungspolitischer Maßnahmen in der Europäischen Union


Author(s)
Märker, Alfredo
Published
Baden-Baden 2004: Nomos Verlag
Extent
209 S.
Price
€ 38,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefan Manz, University of Greenwich, London, United Kingdom

Spätestens seit dem Amsterdamer Vertragswerk von 1997 steht eine Harmonisierung zuwanderungspolitischer Bestimmungen der EU-Mitgliedstaaten auf der Brüsseler Agenda. Nicht nur die Politik, sondern auch die politische Philosophie steht damit angesichts unvermindert hoher Zuwanderungszahlen vor der Herausforderung, Analyse- und Lösungsansätze vorzuschlagen, die sich zwischen den Extrempositionen vollständiger Freizügigkeit und “Festung Europa” bewegen. Auch Fragen der Gerechtigkeit werden in der jüngsten Zeit vermehrt aufgegriffen und als Messlatte an zuwanderungspolitische Entscheidungen angesetzt. Dabei werden die “Grenzen von Gleichheit und Gerechtigkeit” 1 angesichts globaler Wohlstandsgefälle diskutiert oder polemisch Forderungskataloge für die Industriestaaten aufgestellt 2. Aus der Feder von Alfredo Märker liegt nun eine differenziert argumentierende und anregende Dissertation vor, die die europäische Zuwanderungspolitik vor der Folie globaler Gerechtigkeitstheorien analysiert.

Einmal mehr wird John Rawls 3 als Sprungbrett für eine Gerechtigkeitsdiskussion herangezogen, obwohl er sich selber kaum zu Fragen der Zuwanderung geäußert hat. Es geht ihm vor allem um gemeinschaftsinterne Verteilungsgerechtigkeit, die so zu regeln sei, dass die unvermeidbaren Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten die bestmöglichen Aussichten bringen und Ämter und Positionen grundsätzlich allen offen stehen. Etwaige Ungleichheiten sind im Rahmen seines liberalen Modells lediglich gesellschaftlich oder wirtschaftlich gerechtfertigt, nicht aber auf der Ebene der unantastbaren individuellen Rechte und Freiheiten. Aus kommunitaristischer Kritikhaltung gegenüber Rawls entwickelt Michael Walzer seine “Sphären der Gerechtigkeit” 4. Wenn gerade angesichts frappierender globaler Ungleichheit die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft über die Qualität individueller Lebenschancen entscheide, dann müsse die Rawls’sche Verteilungsgerechtigkeit auch auf die Frage nach der Verteilung von Zugangsrechten ausgeweitet werden. Walzer betont das Recht der Zielgemeinschaften, ihre Zuwanderungsbestimmungen festzusetzen, um Charakter und Identität der politischen Gemeinschaft zu wahren.

Das letztere Argument reiht sich in die normativen Argumentationsstränge ein, die Märker aus verschiedenen Gerechtigkeitsmodellen herauskristallisiert. Die theoretisch denkbare vollständige Öffnung von Außengrenzen zöge ihre Berechtigung aus der libertären Forderung eines Menschenrechtes auf Migration. Auch würde sie zwischengemeinschaftliche Ungleichheiten ausgleichen, die durch unterschiedliche Ressourcenverteilung oder unfaire Kooperation erst entstanden sind. Dem durch seine Herkunft benachteiligten Individuum würde durch Migration eine Steigerung der Lebenschancen ermöglicht.

Auf der anderen Seite lässt sich auch das Recht auf nationalstaatliche Autonomie und Zuwanderungsbeschränkung durch Gerechtigkeitsaxiome legitimieren, die nicht unbedingt partikularistisch sein müssen. Da Nationalstaaten derzeit die effektivsten Instanzen zur Durchsetzung universalistischer Werte seien, bedürften sie eines Schutzes vor unkontrollierter Zuwanderung. Hier sind die Bewahrung kultureller Identität, die Funktionsfähigkeit interner Institutionen (z. B. Demokratie, Sozialstaat), sowie die vorrangige Verpflichtung gegenüber ‘fellow countrymen’ zu nennen, die einen stabilen Nationalstaat als Garanten unversalistischer Werte förderten. Die Restriktionsmodelle erstrecken sich im Übrigen nicht auf Asylanten, indem sie die moralische Verpflichtung zur Aufnahme hilfsbedürftiger Zuwanderer anerkennen. Dass die politische Philosophie in diesem Bereich allerdings noch Lücken aufweist, hat Derek R. Bell zuletzt am Beispiel von Umweltflüchtlingen gezeigt, die durch die von den Industriestaaten verursachte Erderwärmung zum Verlassen ihrer Heimatregionen gezwungen sind 5.

Beide Theorierichtungen – vollständige Öffnung oder Abschottung – sind politisch nicht durchsetzbar. Die Europäische Union als durchaus von Gerechtigkeitserwägungen geleitete Staatengemeinschaft muss sich einen Mittelweg zwischen den Extremen suchen. Dabei besteht die politische Herausforderung vor allem darin, “die Spannungsfelder zwischen Zuwanderungsskepsis und Migrationsbedarf, zwischen Bewahrung nationaler Souveränität und dringend notwendiger Europäisierung aufzulösen.” (S. 178) Erst die Bewältigung dieser Aufgabe würde zeigen, ob sich die EU eher als Interessen- oder als Wertegemeinschaft versteht. Das Umsetzungsproblem besteht darin, dass sich aktuelle Vorschläge der Kommission zwar zuwanderungspolitischer Minimalgerechtigkeit verpflichtet fühlen, aufgrund des Demokratiedefizits aber letztlich nationalstaatlichen Bestimmungen unterworfen sind. In jedem Falle, so die Forderung des Autors, müssten Migrationsbewegungen stärker als Folge globaler Verteilungsungerechtigkeit wahrgenommen werden und ein Mehr an Grenzoffenheit auch mit einem Mehr an Unterstützung für Zweite und Dritte Welt einhergehen.

Mit der Forderung steht der Autor natürlich nicht allein, doch ist sein Weg zu diesem Schluss – die Verbindung von Empirie und Gerechtigkeitstheorie – durchaus innovativ. Die Struktur der Arbeit hätte diese Verbindung allerdings noch klarer herausarbeiten können. Die beiden Themenblöcke werden über weite Passagen isoliert abgehandelt, sodass sich Verbindungen oft erst im nachhinein erschließen. Eine engere Verzahnung wäre leserfreundlicher gewesen. Desweiteren ist der Rückgriff auf veraltete Daten, den der Autor in der Einleitung wenig überzeugend zu rechtfertigen versucht (S. 16), in den empirischen Teilen störend. Angaben beispielsweise zur ‘Ausländischen Bevölkerung in der EU im Jahr 1996’ (S. 25) oder die Eurobarometer-Umfragewerte von 1997 hätten durch eine kurze Internetrecherche auf der EU-Website (www.europa.eu.int) aktualisiert werden können. Hier und anderswo hätte sich auch eine Fülle politischer Texte (Gesetze, Positionspapiere, Verträge etc.) gefunden, deren Auswertung in der Einleitung zwar versprochen wird, die sich dann aber kaum im Haupttext finden. Lediglich ein Positionspapier der Europäischen Kommission von 2000 sowie das geplante rot-grüne Zuwanderungsgesetz werden einer genaueren Analyse im Lichte von Gerechtigkeitstheorien unterzogen. Dadurch gerät die Darstellung unterschiedlicher Positionen, die dem Autor im Theoriebereich so gut gelingt, im politischen Bereich etwas zu kurz. Dass die Analyse umfangreicher politischer Textkorpora vor dem Hintergrund globaler Gerechtigkeitstheorien aber gewinnbringend vorgenommen werden kann, lässt Märkers Studie klar erkennen. Hier ergäben sich Anknüpfungspunkte für ähnliche Forschungsvorhaben.

Abgesehen von den Kritikpunkten ist eine hochreflektierte, balanciert argumentierende und gleichzeitig engagierte Arbeit entstanden, die zuwanderungspolitische Fragen der Europäischen Union um den Aspekt der Gerechtigkeit bereichert, den der politisch-öffentliche Diskurs wie auch die empirische Forschung zu Zuwanderungsfragen oft vermissen lässt.

Anmerkungen:
1 Jordan, Bill; Düvell, Franck, Migration. The Boundaries of Equality and Justice, Cambridge 2003.
2Dummett, Michael A. E., On Immigration and Refugees, London 2001.
3 Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1991 (englische Originalausgabe 1971); ders., The Law of Peoples, Cambridge/Mass. 1999.
4 Walzer, Michael, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1992.
5 Bell, Derek R., Environmental Refugees: What Rights? Which Duties?, in: Res Publica 10 (2004), S. 135-152; in Auseinandersetzung mit Charles Beitz und John Rawls.

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09.09.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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