H. M. Krämer (Hrsg.) u.a.: Geschichtswissenschaft in Japan

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Title
Geschichtswissenschaft in Japan. Themen, Ansätze und Theorien


Editor(s)
Krämer, Hans Martin; Schölz, Tino; Conrad, Sebastian
Published
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
244 S.
Price
€ 19,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Margaret Mehl, Department of Cross-Cultural and Regional Studies, Universität Kopenhagen

Japan hatte einerseits lange vor seiner Öffnung zum Westen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine eigenständige Geschichtsschreibung und -forschung; andererseits war es auch eines der ersten nicht-westlichen Länder, das die westliche und namentlich die deutsche Geschichtswissenschaft übernahm und zur Grundlage einer modernen Universitätsdisziplin machte. Dabei war – wie in westlichen Ländern – die Entwicklung der Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin eng mit dem Ausbau des Nationalstaates verbunden. Beides, die eigenständige Tradition, die auch die Entstehung der modernen Disziplin beeinflusste, und die Parallelen in der Entwicklung in westlichen Ländern, sollten für westliche Historiker Grund genug sein, sich für die Geschichtswissenschaft in Japan zu interessieren. Die japanische Geschichtswissenschaft ist zudem stark internationalisiert; japanische Historiker haben schon seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts theoretische Ansätze aus dem Westen nicht nur rezipiert, sondern auch weiterentwickelt. Aber dieser Rezeption ausländischer Anzätze durch Japan steht, wie mehrere Autoren konstatieren, die weitgehende Ignoranz der nicht auf Asien spezialisierten Historiker Europas und der USA gegenüber. Nur wenige Arbeiten werden aus dem Japanischen übersetzt.

Der Band wird von einem Überblickskapitel der Herausgeber eingeleitet, das die Entwicklung seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und den aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft skizziert. Die Autoren identifizieren drei Charakteristika der akademischen Geschichtswissenschaft; die relative Staatstreue an den Universitäten; die Privilegierung der vormodernen Geschichte, und die Aufspaltung der Disziplin in Japanische, Westliche und Östliche Geschichte. Diese im neunzehnten Jahrhundert entstandene Einteilung begünstigte eine Tendenz, Japan isoliert von seinem asiatischen Kontext zu betrachten. Erst in jüngster Zeit verstärkt sich die Tendenz Japan auch in der Zeitgeschichtsforschung als Teil Asiens zu betrachten, wobei der Postkolonialismus eine differenziertere Betrachtung der eigenen Vergangenheit als Kolonialmacht anregte. Auch andere neuere Entwicklungen entsprechen internationalen Trends. Die kulturgeschichtliche Wende hat das Interesse an Fragen der Repräsentation angeregt. So wurde „Japan“ als ethnisch und kulturell homogene Größe dekonstruiert, ein Ansatz von besonderer Relevanz, weil seit der Nachkriegszeit der Diskurs über Wesen und Besonderheiten der Japaner (Nihonjinron) weit über die Wissenschaft hinaus in der Öffentlichkeit einen erheblichen Raum einnimmt. Die Erforschung der Erinnerungskultur hat gleichfalls politische Implikationen. Internationale Strömungen haben also erheblich auf die Bearbeitung dieser für das heutige japanische Selbstverständnis zentralen Bereiche eingewirkt und zur Pluralisierung der Perspektiven beigetragen.

Die folgenden Beiträge stellen in ungefähr chronologischer Reihenfolge einzelne Richtungen vor, beginnend mit Detlev Taranczewskis Aufsatz „Japan, der Feudalismus, Westeuropa, Ostasien.“ Die heute gebräuchliche Übersetzung des europäischen Begriffs, hôkensei, stammt aus der chinesischen Geschichte und wurde in Japan lange vor der Rezeption des europäischen Feudalismusbegriffes angewendet. Anders als die folgenden Beiträge behandelt Taranczewskis nicht nur den Diskurs sondern auch die relevante Epoche selbst. Dies ist auch notwendig, um aufzuzeigen, welche Strukturmerkmale der in Japan mit Feudalismus bezeichneten Epoche oder Epochen (die Periodisierung ist für Japan wegen der langen Übergangsphasen mehr umstritten als für Europa) überhaupt die Anwendung des Begriffes rechtfertigt. Der Feudalismusbegriff hat in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren; wie für Europa, ist seine Nützlichkeit auch für Japan hinterfragt worden, ohne dass bisher eine Alternative in Sicht wäre.

Die nächsten vier Beiträge behandeln vorrangig für die Geschichte seit dem neunzehnten Jahrhundert relevante Diskurse; Diskurse, die wegen der direkten Berührungspunkte mit der Geschichte Europas und der USA für Historiker dieser Länder von besonderem Interesse sein dürften. Anneli Wallentowitz’ Beitrag „Grundzüge der Diskussion über Imperialismus in Japan“ beschäftigt sich mit der Deutung der Epoche vom Sino-Japanischen Krieg 1894/5 bis zum Jahr 1945. Schon Zeitgenossen nahmen die Zeit um 1900 als neue Epoche für Japan wahr. Die japanische Debatte wurde maßgeblich von der Rezeption ausländischer Theorien und besonders des Marxismus-Leninismus bestimmt. Dieser Einfluss setzte sich nach 1945 fort. Inzwischen haben die Rezeption der Kolonialgeschichtsschreibung sowie der postkolonialen Studien neue Ansätze angeregt. Wie Taranczewski hebt auch Wallentowitz die Rezeption der Arbeiten von Immanuel Wallerstein zum modernen Weltsystem hervor.

Curtis Anderson Gayle diskutiert in seinem Aufsatz „Marxistische Geschichtstheorie im modernen Japan“ einen der einflussreichsten Ansätze, der seit der Einführung des Marxismus im späten 19. Jahrhundert und bis in die 1970er-Jahre hinein sowohl die geschichtswissenschaftliche Methode als auch die gesellschaftspolitische Praxis bestimmte. Gayle behandelt dabei zum Teil dieselben Kontroversen wie Wallentowitz und Schölz, was in der Natur der Sache liegt und Zusammenhang zwischen den Einzelbeiträgen schafft.

Tino Schölz’ Beitrag „Faschismuskonzepte in der japanischen Zeitgeschichtsforschung“ beschäftigt sich mit der Forschung zur Periode von 1931 bis 1945. Im Gegensatz zur westlichen Geschichtsschreibung über Japan, in der die Ablehnung des Faschismusbegriffs für Japan dominiert, überwog im Japan der Nachkriegszeit lange die grundsätzliche Akzeptanz eines marxistisch-leninistischen Faschismusbegriffes; zur Debatte stand nur inwieweit sich der japanische Faschismus von dem anderer Länder unterschied.

Mit „Alte und neue Modernisierungstheorie in Japan“ nimmt Hans Martin Krämer einen Theoriekomplex auf, der einerseits mit der Faschismusdiskussion zusammenhängt; marxistische Historiker der Zwischenkriegszeit debattierten die Frage, ob Japan eine moderne Gesellschaft sei oder nicht. Andererseits gewann die Modernisierungstheorie wie sie in den 1950er-Jahren in den USA entwickelt wurde, gerade für die anti-marxistische Geschichtswissenschaft an Bedeutung. Auch hier herrscht ein deutlicher Unterschied zwischen der westlichen und der vom Marxismus dominierten japanischen Geschichtsforschung. Erst ab Ende der 1960er-Jahre kritisierten auch westliche Historiker die Modernisierungstheorie. Japanische Forscher entwickelten differenziertere Ansätze, die mit zwei Begriffen arbeiteten, kindaika, dem herkömmlichen Begriff für Modernisierung, und gendaika, ein Begriff, der sich chronologisch auf die Zeitgeschichte und konzeptionell auf die Entstehung der Massengesellschaft bezieht. Japanische Historiker haben also ein eigenes, differenzierteres Analyseinstrument geschaffen, das es im Westen so nicht gibt.

Die letzten drei Beiträge behandeln im Gegensatz zu den vorhergehenden Forschungsansätze, die für alle Epochen der Geschichte relevant sein können. Andrea Germers Aufsatz „Historische Frauen- und Geschlechterforschung: Von der Matriarchatsforschung zur transnationalen Geschlechtergeschichte“ behandelt die Entwicklung einer eigenständigen Frauengeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert. Neben der Rezeption des Marxismus und anderer westlicher Theorien wurde seit den 1950er-Jahren an der Entwicklung neuer Ansätze gearbeitet, wobei auch Anregungen aus der japanischen Volkskunde kamen. Seit den 1990er-Jahren findet, auch unter dem Einfluss aktueller Fragen wie der Entschädigung für Zwangsprostitutierte im Krieg, eine Neuorientierung hin zum asiatischen Kontext und damit einer verstärkten Eigenständigkeit gegenüber der westlichen Forschung statt.

Einige von Germer angesprochene Ansätze behandelt Regine Mathias eingehender in ihrem Beitrag „Alltagsgeschichtliche Ansätze in der japanischen Geschichtswissenschaft.“ Seit 1945 sind verschiedene, nicht klar von einander abzugrenzende Richtungen entstanden; die Lebens-/Alltagsgeschichte (seikatsushi), die Lebensgeschichte der Menschen des Volkes, der „kleinen Leute“ (minshûshi), und die Eigengeschichte (jibunshi). Die japanischen Begriffe decken sich nicht mit den deutschen oder englischen, umfassen aber Ansätze und Theorien aus dem Westen. Obwohl über die Rezeption westlicher Theorien hinaus keine ausdrückliche Theoriediskussion stattgefunden hat, finden sich in der japanischen Geschichtsschreibung durchaus neue Ansätze, die auch für westliche Historiker interessant sein könnten.

Der Band schließt mit Fabian Schäfers Beitrag, „Cultural Studies in Japan.“ Schäfer hebt dabei den internationalen Charakter und die Selbstreflexivität der Cultural Studies hervor. Eine breitere Rezeption findet in Japan seit den 1990er-Jahren statt, wobei die Träger im Wesentlichen einer Generation entstammen, und eine fachübergreifende kritische Perspektive suchen. Wichtige Elemente sind die Kritik am wissenschaftlichen Eurozentrismus und an Konzepten von Nation und Ethnizität, sowie der im Eingangskapitel angesprochenen Nihonjinron-Kritik.

Schäfer schließt mit Desiderata für die Japanwissenschaften in Deutschland. Von größerer Relevanz wäre indessen eine Diskussion der Frage, was deutsche und westliche Historiker – und nicht nur Japanspezialisten – sowie ihre japanischen Kollegen zur vermehrten und verbesserten Rezeption der japanischen Geschichtswissenschaft tun könnten. Zugegebenermaßen ist eine solche Diskussion nicht Ziel des Buches, das ja immerhin einen positiven Beitrag leistet. Die Auswahl der Einzelthemen ist unvermeidlich beschränkt; dafür tragen die Überschneidungen dazu bei, dass die Beiträge besser zusammenhängen als es manchmal in Sammelbänden der Fall ist.

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05.03.2010
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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