Global history - Wegbereiter für einen neuen Kolonialismus?

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Margrit Pernau, Research Fellow University of Bielefeld/ Erfurt

Global history ist die neue Wachstumsbranche der deutschen Geschichtswissenschaft. Studienordnungen fordern die Vermittlung transnationaler Kompetenzen und auch Stellenausschreibungen legen zunehmend Wert darauf. Dies ist zunächst einmal höchst erfreulich, scheint sich der Blick der Historikerschaft doch – endlich, möchte man sagen – über die westeuropäischen Grenzen und sogar auf außereuropäische Entwicklungen zu richten.

Global history kann jedoch nicht nur eine Überwindung des Eurozentrismus bewirken, sondern ebenso als Instrument in einem "Clash of Civilizations" benutzt werden. England und Frankreich, beispielsweise, dachten ja im späten 19. Jahrhundert durchaus global, und dies auch in der Geschichtswissenschaft. Wenn wir nicht wachsam sind, so riskieren wir, dass neue Formen von Kolonialismus und Orientalismus unter dem Etikett der global history fröhliche Urständ feiern. Vor dem Hintergrund eigener Arbeiten zur indischen Geschichte möchte ich daher in dieser bewusst provozierend gehaltenen Miszelle vor einigen Gefahren warnen und ein paar Lösungsstrategien zur Debatte stellen.

Wenn uns die intensive Diskussion der letzten Jahre um die Ansätze von Michel Foucault und Edward Said irgendetwas gelehrt hat, so dürfte dies eine erhöhte Sensibilität für die Zusammenhänge zwischen der Produktion von Wissen und der Ausübung von Macht sein – nicht nur abstrakt in der Vergangenheit, sondern auch und gerade in dem, was wir täglich tun. Es hat daher nicht nur akademische Konsequenzen, wenn es im Namen der global history zu einer Zweiteilung der Geschichte kommt, in einen (west?)europäischen Teil, der uns einen hohen Standard der Professionalisierung und Differenzierung wert ist, und einen Rest, den man sich relativ schnell und ohne Umwege wie Sprach- und Quellenstudien anlesen kann und über den man mit dem Mut zum groben Pinselstrich referiert. In einer Universitätslandschaft, in der Historiker/innen der westfälischen Landesgeschichte noch immer zusammenzucken, wenn man ihnen zumutet, auch die südlich angrenzende Rheinprovinz mit abzudecken, wird von Indienhistoriker/innen zunehmend erwartet, sie mögen doch bitte auch noch Südostasien und – warum nicht – auch den Mittleren Osten bedienen. Sicherlich sind die Mittel knapp, aber als Historiker/innen ist es uns doch auch bekannt, dass Machtentscheidungen zumeist in dem Gewand der Sachzwänge daherkommen. Welche Weltregionen in Deutschland Anspruch auf eine professionelle Geschichtsschreibung haben, reflektiert zunächst einmal globale Machtverhältnisse – es ist kein Zufall, dass fachfremde Historiker/innen wesentlich schneller zu Schlussfolgerungen über die islamische Geschichte, vom 7. Jahrhundert bis zur Gegenwart und von Marokko bis Indonesien, bereit sind, als dass sie etwa einen solchen Schnelldurchgang durch die japanische Geschichte wagen würden.

Nun soll jedoch keineswegs behauptet werden, dass all diejenigen, die sich jetzt darum bemühen, sich in die Geschichte anderer Erdteile einzulesen, dies nur mit dem Ziel täten, die europäische Identität durch die Gegenüberstellung mit dem Orient zu stärken und an der Festung Europa mitzubauen. Im Gegenteil, es ist viel ehrliches Interesse vorhanden und auch eine wachsende Bereitschaft, sich in neue Zusammenhänge einzulesen und einzudenken. Doch so einfach ist es nicht. Die Beschäftigung mit der außereuropäischen Geschichte gleicht oftmals einer aufregenden Fahrt zwischen der Skylla der Eingemeindung und der Charybdis der Exotisierung, und manches historische Projekt ist an diesen Klippen zerschellt. Es gilt ein Gefühl für die Andersartigkeit von Zusammenhängen zu entwickeln, die sich unseren vertrauten Kategorien entziehen und diese Fremdheit doch nicht zu verabsolutieren, aufmerksam dafür zu werden, wo sich etwas unserem Vorverständnis entzieht, und es doch nicht als unverständlich beiseite zu schieben – dies lernt man nicht in drei Monaten und auch nicht, wenn man sich nur im geschlossenen Zirkel der kolonialen Beobachtungen bewegt, die oftmals genau an diesem Problem schon gescheitert sind. Das Bewusstsein für diese Schwierigkeiten – denen wir uns doch stellen müssen, wenn wir sie überwinden sollen – droht im triumphalen Gestus einiger Vertreter gegenwärtiger global history unterzugehen, mit dem man sich in kürzester Zeit historiografische Kompetenz über mehrere Kontinente anzueignen vermeint.

Es gilt nicht, Pfründe zu verteidigen und den Kollegen der europäischen Geschichte den Zutritt zu verwehren, ganz im Gegenteil! Die Aufgabe professioneller Standards jedoch, die Bereitschaft vorschnell Kompetenzen zu beanspruchen, weil der Arbeitsmarkt dies augenblicklich verlangt, kann allzu leicht zum Schuss werden, der nach hinten losgeht, und dazu führen, dass global history zu so etwas wie eine "history light" wird, und nun von der Zunft erst recht nicht mehr anerkannt wird. Es ist nicht einzusehen, warum für die außereuropäische Geschichte andere Maßstäbe der Professionalität gelten sollen, so man sich nicht auf Argumente des 19. Jahrhundert zurückziehen will, dass die außereuropäischen Völker der Natur und unserem Ursprung näher seien, dass wir sie daher leichter verständen und sie aufgrund einer postulierten Zeitlosigkeit auch weniger Geschichte hätten. Aber das will ja wohl im Ernst heute niemand mehr behaupten.

Für eine professionelle Beschäftigung mit der Geschichte außereuropäischer Regionen stellt die Sprachkompetenz ein zentrales Problem dar. Ebenso wie eine Mediävistik ohne Latein undenkbar ist und niemand auf den Gedanken käme, die Geschichte Frankreichs oder Englands nur anhand deutscher Beobachtungen und ausschließlich mit deutscher Fachliteratur zu schreiben, braucht die außereuropäische Geschichte über weite Strecken nicht nur die Kenntnis der Sprachen der Kolonialmächte, sondern auch der lokalen Sprachen, wenn sie vermeiden will, die koloniale Sichtweise zu reproduzieren und sich darüber hinaus in Absurditäten zu verstricken.

Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, was gemeint ist: Für die britische Kolonialmacht überraschend brachen seit 1937 in Indien, vor allem in den nur indirekt beherrschten Fürstenstaaten, eine ganze Reihe von Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen aus. Auf einer Konferenz wurde kürzlich eine komplizierte Theorie entwickelt, wie sich diese Spannungen im Unterbewusstsein der Religionsgemeinschaften langsam aufgebaut hatten, bevor sie sich dann aus einem nichtigen Anlass entluden. Nur: die Vorbereitung dieses Konfliktes hatte keineswegs im Unterbewusstsein der Beteiligten stattgefunden, sondern sich langsam in den Pamphleten und Zeitungen vorbereitet, die in indischen Sprachen veröffentlicht wurden. Akteure, Themen und Auseinandersetzungen lassen sich dort bis ins Einzelne nachvollziehen. Der Referent allerdings wies diesen Einwand im Anschluss an seinen Vortrag mit entwaffnender Offenheit zurück: das könne wohl sein, aber diese indischen Texte könne er nicht lesen. Wollen wir wirklich riskieren, dass sich historische Kausalketten künftig den Sprachkompetenzen der Historiker/innen anpassen müssen?

Ein zweites Beispiel: Im indischen Fürstenstaat Hyderabad wurde 1911 von einer britischen Lehrerin, Florence Wyld, eine Schule für höhere Töchter gegründet. Jahrzehnte später schrieb sie ihre Memoiren, die einen wundervollen Einblick in die Welt des Harems erlauben, so meint man bei der Lektüre. Vorsicht ist jedoch geboten. So geht Florence Wyld davon aus, erst ihre Ankunft habe Bewegung in die Regungslosigkeit der Frauengemächer gebracht; Frauen, die noch nicht einmal wussten, was eine Schule sei, hätten eingewilligt, ihren Töchtern eine Ausbildung zukommen zu lassen, und die einheimische Lehrerin, eine Prinzessin aus dem Hause des Großmoguln, hätte durch die Begegnung mit ihr Sehnsucht nach Freiheit entwickelt, die sie sich jedoch genauso wenig eingestehen konnte wie irgendeine Frau ihrer Generation. Nun zeigen aber die Urdu Quellen dieser Zeit, vor allem Frauenzeitschriften und Selbstzeugnisse der Frauen selber in Form von Essays und Romanen, dass die Mütter der ersten Schülerinnengeneration nicht nur sehr genau wussten, was eine Schule war, sondern zu einem nicht geringen Teil selber schon Schulen besucht hatten, und dass sie selbst die treibende Kraft hinter der Einstellung von Florence Wyld gewesen waren. Vor allem die Verschleierung und die von der Welt abgeschlossenen Frauengemächer wurden in ihren Texten immer wieder und durchaus kritisch thematisiert. Für ein Thema, das – bis heute! – eine so starke legitimatorische Wirkung für die Ausübung von Herrschaft entfaltet, wie die Befreiung der orientalischen Frauen durch den Westen, ist dies eine nicht unwesentliche Erkenntnis!

Man kann außereuropäische Geschichte natürlich auch anhand der englisch- oder französischsprachigen Quellen betreiben, nur muss man dann sein Thema sorgsam wählen. Ein solcher Zugang ist sicherlich für weite Teile der Wirtschaftsgeschichte möglich, zum geringeren Teil auch für die Außenpolitik- und Diplomatiegeschichte, jedenfalls solange man daran zu glauben vermag, dass sie sich im Wesentlichen in den europäischen Kabinetten abgespielt hat. Gänzlich unmöglich wird es jedoch für all diejenigen Themen, die der Diskussion in Deutschland in den letzen zwei Jahrzehnten so spannende neue Impulse gegeben haben. Wie stellt man sich eine Begriffsgeschichte oder eine Geschichte der Perzeptionen ohne Sprachkenntnisse vor? Wie will man Alltagsgeschichte, Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte, aber auch die Herausbildung von sozialen Gruppen und Gemeinschaften, Prozesse der Identitätsbildung und der Repräsentation bewältigen?

Hier lösen der Postkolonialismus und zum Teil auch die Subaltern Studies leider ihre eigenen Ansprüche zu wenig ein. Das Interesse an der "construction of colonial knowledge" und die Debatten darüber, ob der Subaltern sprechen könne, haben auch bei jenen, von denen man es von ihrem Ansatz her erwarten könnte, die Beschäftigung mit den einheimischen Stimmen verdrängt. Dies hat natürlich auch wiederum viel mit dem politischen Status der betroffenen Sprachen in den jeweiligen Ländern zu tun – für Japanisch trifft diese Verdrängung gar nicht zu, und selbst in Indien für Bengali sehr viel weniger als für das mit den Muslimen assoziierte und entsprechend marginalisierte Urdu und Persisch. Obwohl der größte Teil der nordindischen, nichtkolonialen Quellen im 19. und erst recht im 18. Jahrhundert in diesen Sprachen geschrieben ist, macht sich kaum noch jemand die Mühe, Sprache und Schrift zu lernen und die Quellen dort zu suchen, wo sie wirklich liegen. Man wäre versucht es Bequemlichkeit zu nennen, wenn man nicht wüsste, unter welchem Zeit- und Leistungsdruck die allermeisten Historiker/innen arbeiten. Natürlich kann man eine Frage wesentlich schneller anhand der englischen Quellen der British Library behandeln, wo man Findbücher, professionelle Hilfe, eine traumhafte Arbeitsatmosphäre und alle technischen Hilfsmittel vorfindet, derer man bedarf, als wenn man sich in einem indischen Provinzstädtchen durch Bände persischer Korrespondenz wühlt, ohne eigenen Tisch, aber mit Gastrecht am Schreibtisch des Archivdirektors und in alle seine Besuche und Gespräche freundlich mit einbezogen, ohne Verzeichnisse und Regesten, mit einem Kopierer der allenfalls die Hälfte des Jahres funktioniert und oft noch ohne Klimaanlage.

Der Zeitdruck, unter dem wir arbeiten, ist real, dass wissen wir alle. Aber haben wir denn schon so weit resigniert, dass wir die Hoffnung auf eine gute Geschichtsschreibung – handwerklich sauber und in Ruhe durchdacht – aufgegeben haben? Müssen, dürfen wir uns mit einer Situation abfinden, in der Kolonialismus und Orientalismus die einzigen möglichen Antworten sind, auf die Zwänge unter denen wir forschen?

Soll global history nicht nur ein schnell verbrauchtes Schlagwort sein, sondern eine wirkliche Chance bekommen, ist noch eine intensive Diskussion nötig. Folgende Thesen möchte ich hier zur Debatte stellen:

1. Deutschland hat ausgezeichnete Fachleute zur außereuropäischen Geschichte. Dieses Potential gilt es zu erhalten und auszubauen.

2. Aber auch die Außereuropa-Historiker/innen müssen umdenken, jedenfalls eine gute Anzahl unter ihnen. Nur wenn wir uns weitaus stärker als bisher in die Fragen einmischen, die unsere Kolleg/innen in der deutschen Geschichte diskutieren, können wir den Beitrag aufzeigen, den die außereuropäische Geschichte leisten kann. Brücken statt Elfenbeintürme könnte das neue Motto heißen.

3. Global history ist kein Feld für Einzelkämpfer. Bestehende Ansätze zur Zusammenarbeit müssen daher ausgeweitet und neue entwickelt werden. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, die deutsche und europäische Geschichte in diese Netzwerke einzubeziehen und die Trennung zwischen "the West and the Rest" zu durchbrechen.

4. Wir brauchen eine umfassende Diskussion, mit welchen Begriffen wir global history schreiben können. Hilfreich könnte dabei der Dialog mit der Ethnologie sein, die sich mit diesem Thema seit Jahren intensiv auseinandersetzt. Diese Debatte darf jedoch nicht in einem außereuropäischen Ghetto geführt werden, sondern muss Rückwirkungen auf die europäische Geschichte haben.

5. Global history muss also mehr sein als ein dekoratives Extra, das legitimiert, dass alles andere so bleibt wie bisher. Es geht nicht um den pflichtschuldigen zusätzlichen Vortrag auf jeder Konferenz, (nicht einmal nur um die Schaffung einiger zusätzlicher Stellen!), sondern um ein grundsätzliches Umdenken, das die europäische und die außereuropäische Geschichte auf einem vergleichbaren professionellen Standard zusammenbringt und beide gleichermaßen verändert.

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17.12.2004
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