Kaum ein Begriff hat in den vergangenen Jahren eine ähnlich fulminante Karriere gemacht wie derjenige der Globalisierung. Er ist aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken, zirkuliert in Feuilletons, Talkshows und Politikerreden ebenso wie in sozialwissenschaftlichen Universitätsseminaren. So sehr man den inflationären Gebrauch und die unscharfe Semantik dieses Begriffes auch kritisieren mag, es führt doch heute kein Weg mehr an ihm vorbei. Die enorme Wirkungsmacht hat offenbar auch mit seiner Vielschichtigkeit und Ambivalenz zu tun. „Globalisierung“ ist nicht nur ein Begriff der Zeitdiagnose, mit dem sich (fast) alle Gegenwartsprobleme erklären oder zumindest umschreiben lassen, sondern auch eine der umstrittensten politischen Denkfiguren der vergangenen zehn Jahre. Schließlich handelt es sich auch um ein analytisches Konzept, das vor allem in den Politik- und Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle spielt, in zunehmendem Maße aber auch von Ökonom/innen, Jurist/innen und Kulturwissenschaftler/innen aufgegriffen und diskutiert wird. Inzwischen sind – vor allem im anglo-amerikanischen Raum – zahlreiche Professuren, Institute und disziplinübergreifende Zentren zur Erforschung der Globalisierung entstanden.
Dass sich neuerdings auch Historiker/innen diesem Thema annehmen, mag daher nicht verwundern – schließlich geht es auch darum, im Kampf um knappe Forschungsressourcen ein Thema zu besetzen, dessen Relevanz niemand bestreiten kann. Der Hinweis, dass Globalisierung kein neues Phänomen, sondern schon in früheren historischen Epochen zu beobachten sei, kam zunächst allerdings nicht von Historiker/innen, sondern von Kritiker/innen des Globalisierungskonzeptes. So haben der Soziologe Paul Hirst und der Ökonom Grahame Thompson darauf hingewiesen, dass Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte bereits im 19. Jahrhundert einen Verflechtungsgrad erreicht hätten, der den gegenwärtigen Verhältnissen um nichts nachstehe.1 Daher tauge „Globalisierung“ kaum als Begriff der Gegenwartsdiagnose. Die Suche nach früheren „Globalisierungswellen“ haben inzwischen auch Historiker/innen mit großer Energie aufgenommen. Während die Debatte über den Beginn, die Phasen und die Periodisierungen von Globalisierung noch längst nicht zu Ende geführt ist, hat sich in der empirischen Forschung bereits ein deutlicher Schwerpunkt auf der Zeit zwischen etwa 1850 und 1914 herausgebildet, für die sich inzwischen die Bezeichnung „erste Globalisierung“ eingebürgert hat.2 Die Wahl dieses Zeitraumes leuchtet unmittelbar ein. Für keine andere historische Epoche lassen sich globale Verflechtungen von ähnlicher Tragweite beobachten, von der Formierung global integrierter Güter- und Kapitalmärkte über den sprunghaften Anstieg transkontinentaler Migration bis hin zur dramatischen Verringerung „zeiträumlicher Distanz“ durch neue Kommunikationstechnologien. Zum anderen bietet das 19. Jahrhundert erhebliches Potential für historiografische Umdeutungen, galt es doch bis vor kurzem noch als das „Zeitalter des Nationalstaates“. Die Notwendigkeit, das überkommene nationalhistorische Paradigma aufzugeben und durch eine transnationale oder gar globale Perspektive zu ersetzen, lässt sich für diese Epoche daher überzeugend zeigen.
Doch es wäre wissenschaftlich unbefriedigend, wenn die Bemühungen, „Globalisierung“ zu historisieren, auf die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg beschränkt blieben. Dies würde dazu führen, dass die Entwicklung im 19. Jahrhundert als ein abgeschlossener historischer Prozess betrachtet würde, der nur wenig mit der Gegenwart zu tun hätte. Tatsächlich haben einige Historiker/innen die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als eine Phase der „De-Globalisierung“ charakterisiert, in der nicht nur das internationale System des 19. Jahrhunderts zerbrach, sondern auch die Weltwirtschaft durch Nationalismus und Autarkiedenken in eine schwere Krise geriet. Eine solche dichotomische Trennung zwischen Phasen globaler Integration und Desintegration erscheint jedoch wenig überzeugend. Denn zum einen ist mit guten Argumenten darauf hingewiesen worden, dass es selbst im späten 19. Jahrhundert Widerstände und Gegentendenzen zur Globalisierung gab – der Agrarprotektionismus des Wilhelminischen Kaiserreiches ist dafür nur ein Beispiel.3 Die sozialwissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass Globalisierung und Fragmentierung offenbar zusammengehören. Die Entstehung neuer lokaler Identitäten muss hier ebenso in Betracht gezogen werden wie die wirtschaftlichen Regionalisierungsprozesse, die sich in zahlreichen Kontexten beobachten lassen. Auch die ältere Auffassung, dass Globalisierung zu einer kulturellen Homogenisierung führt, hat inzwischen kaum noch Anhänger. Auf der anderen Seite lassen sich – trotz aller Krisen und Rückschläge – auch für die Zwischenkriegszeit weltweite Integrationsprozesse beobachten, von der Entstehung einer globalen Medienindustrie bis hin zu den Versuchen, mit Hilfe des Völkerbundes eine multipolare Weltordnung zu errichten, die auf friedlicher Kooperation und wirtschaftlichem Austausch beruhte. Es macht daher wenig Sinn, fein säuberlich zwischen einer „ersten“ Globalisierung bis 1914, einer „Ent-Globalisierung“ in der Zwischenkriegszeit und einer „zweiten“ Globalisierung nach 1945 zu unterscheiden.
Globalisierungs- und transnationale Geschichte werden häufig in einem Atemzug genannt, und dennoch müssen die Unterschiede deutlich gemacht werden. Transnationale Geschichte verweist, wie Kiran Patel in diesem Forum zu Recht betont hat, eher auf eine bestimmte Forschungsperspektive, weniger auf einen klar zu umschreibenden Prozess. Sie lässt sich auch methodisch nicht eindeutig verorten, sondern vereint komparative, verflechtungs- und transfergeschichtliche Perspektiven. Sie ist potentiell zwar auch „global“, nimmt aber häufig kleinere Einheiten in den Blick. Es ist kein Zufall, dass die Entwicklung dieser Richtung wichtige Impulse aus der Erforschung des deutsch-französischen Kulturtransfers bezogen hat. Transnationale Geschichte kann somit ohne weiteres auf Europa begrenzt bleiben. Bezeichnenderweise spielt Transnational History in der nordamerikanischen Forschungslandschaft eher eine Nebenrolle – dort spricht man lieber gleich von Global oder World History.
Im Unterschied zur transnationalen Geschichtsschreibung setzt die Globalisierungsgeschichte daher die Existenz eines historischen beschreibbaren Prozesses voraus. Dies bedeutet aber auch, dass viel rigoroser nach Ursprüngen, kausalen Verbindungen und zeitlichen Verläufen gefragt werden muss. Zugleich sollte auch deutlich werden, dass nicht jeder Kulturkontakt oder jede Handelsbewegung zur Globalisierung zu rechnen ist. So haben die frühneuzeitlichen Handelsnetzwerke zwar zu einem Warenaustausch über Kontinente hinweg geführt, aber noch keine weltweit integrierten Märkte geschaffen. Von Seiten der Wirtschaftsgeschichte – aber nicht nur von ihr – sind daher überzeugende Gründe angeführt worden, Globalisierung in erster Linie als ein Phänomen der vergangenen 200 Jahre zu begreifen. Hingegen erscheint es wenig sinnvoll, das Konzept in die Frühe Neuzeit zurückzuprojizieren.4
Wo liegen Chance, Probleme und zukünftige Aufgaben einer historischen Globalisierungsforschung? Fünf Aspekte erscheinen mir besonders wichtig:
1. Stärker als die transnationale Geschichte wird die Globalisierungsgeschichte von den Diskussionen der systematischen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften beeinflusst. Fast immer handelt es sich um den Versuch, Konzepte und Begriffe der Ökonomie, der Soziologie, der Politikwissenschaften oder der cultural studies zu historisieren. Dies sollte aber keine Einbahnstraße bleiben. Es kann nicht nur darum gehen, die Geschichte als eine Art Versuchslaboratorium für das Testen sozialwissenschaftlicher Theorien heranzuziehen. Vielmehr muss die historische Forschung zeigen, in welchem Maße sich das Verständnis von Globalisierung insgesamt verändert. So könnte ein Ergebnis sein, dass Globalisierung nicht nur ein langfristiger, sondern auch ein dynamischer Prozess ist, der sich im Zeitverlauf ändert, also selbst historischem Wandel unterliegt. Dies hätte dann auch erhebliche Konsequenzen für das Verständnis gegenwärtiger Entwicklungen.
2. Wer von Prozessen spricht, setzt sich heute in der Geschichtswissenschaft schnell dem Verdacht des historischen Determinismus aus. Tatsächlich sollte die Betonung prozesshafter und transformativer Elemente nicht dazu führen, in die teleologische Perspektive klassischer Entwicklungs- und Modernisierungstheorien zurückzufallen. Globalisierung muss vielmehr als ein offener, kontingenter und nicht durch einen spezifischen Endzustand determinierter Prozess begriffen werden. Gerade die historische Erfahrung lehrt, dass Globalisierung weder irreversibel ist noch einem linearen Verlaufsmuster folgt.
3. Zweifelsohne kann die historische Forschung dazu beitragen, die häufig allzu abstrakt, statisch und überkomplex anmutenden Begriffe der aktuellen Globalisierungsforschung (Netzwerkgesellschaft, Zeit-Raum-Verdichtung, Entterritorialisierung usw.) herunterzubrechen und empirisch schärfer zu fassen. Allerdings gibt es bislang nur wenige überzeugende Versuche, diese Modelle und Theorien auf historische Epochen jenseits der „ersten“ Globalisierung (1850-1914) anzuwenden. Die zukünftige Forschung wird sich der Frage stellen müssen, ob sich Globalisierung als eine tragfähige Kategorie der Zeitgeschichte erweist und welche neuen Deutungspotentiale sich daraus ergeben.5 Für die jüngere und jüngste Zeitgeschichte (nach 1945 bzw. 1989) treten diese vermutlich stärker hervor als für die Zwischenkriegszeit. Doch die historische Forschung sollte auch die Wendepunkte, Bruchstellen und Krisen der Globalisierung zwischen 1914 und 1945 in den Blick nehmen.
4. Am weitesten gediehen ist bislang die Untersuchung weltwirtschaftlicher Integrationsprozesse (einschließlich deren Rückwirkungen auf die nationalen Ökonomien). Die Wirtschaftsgeschichte hat am schnellsten auf die neuen Debatten reagiert und bereits beachtliche empirische Forschungen vorgelegt. Dabei stand weniger die klassische Handelsgeschichte mit ihrem Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit Pate als eine theorieorientierte und stark quantifizierende Cliometrie, die ihre wichtigsten Vertreter im anglo-amerikanischen Raum hat, neuerdings aber auch in Deutschland wieder Resonanz findet. Es wäre jedoch schade, wenn sich die Globalisierungsgeschichte damit erschöpft hätte. Das Spezifische dieses Phänomens liegt ja offensichtlich in der Verschränkung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen. Nicht zuletzt muss Globalisierung auch als ein wissensbasierter „reflexiver“ Prozess begriffen werden. Die kulturelle Repräsentation globaler Zusammenhänge muss daher ebenso in den Blick genommen werden wie die Formierung kognitiver Techniken und Wissensbestände, die sich auf globale Entwicklungen beziehen, etwa im Bereich der Statistik oder der Kartografie. Hier eröffnen sich vielfältige Anknüpfungspunkte für kultur- und sozialhistorische Fragestellungen. Auch die gesamte politikwissenschaftliche Debatte über Global Governance und die damit verbundene Neubestimmung von Territorialität und Souveränität ist von der Geschichtswissenschaft erst in Ansätzen rezipiert worden.
5. Zu den methodischen Herausforderungen der zukünftigen Forschung wird die Frage gehören, wie sich Mikro- und Makrogeschichte zueinander verhalten. Würde sich die Globalisierungsforschung nur darauf beschränken, großflächige Prozesse und säkulare Transformationen zu analysieren, bliebe dieses Untersuchungsfeld blutleer und wenig attraktiv für die historische Forschung. Die Frage, wie globale Tendenzen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten wahrgenommen, angeeignet oder auch zurückgewiesen werden, wie sich Lebensläufe und individuelle Erfahrungen verändern, lässt sich in einigen Bereichen besser analysieren als in anderen. In der Global-Governance-Forschung wird man sich überwiegend auf der Ebene von Institutionen oder kollektiven Akteur/innen bewegen, während historische Migrationsstudien dafür prädestiniert sind, den engen Zusammenhang von biografischer Erfahrung und Globalisierung auszuloten; ein weiteres Beispiel für eine Verbindung von Mikro- und Makroperspektive wäre die Konsum- und Ernährungsgeschichte. Schließlich sind seit geraumer Zeit die Welt- und Kolonialausstellungen in das Blickfeld des Interesses getreten. Dies wird jedoch nicht reichen. Die zukünftige Forschung muss erst noch beweisen, ob Globalisierung als eine zentrale Kategorie historischer Forschung tragfähig ist oder eher eine Randerscheinung bleiben wird.
Anmerkungen:
1 Hirst, Paul; Thompson, Grahame, Globalisation in Question. The International Economy and the Possibilities of Governance, Cambridge 1997.
2 Vgl. Geyer, Michael; Bright, Charles, World History in a Global Age, in: American Historical Review 100 (1995), S. 1034-1060; Tilly, Richard, Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte (Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41), Köln 1999; O'Rourke, Kevin H.; Williamson, Jeffrey G., Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy, Cambridge 1999; Borchardt, Knut, Globalisierung in historischer Perspektive (Sitzungsberichte der Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse), München 2001; Conrad, Sebastian; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt, 1871-1914, Göttingen 2004; Thiemeyer, Guido, „Globalisierung“ und Politik. Studien zur währungspolitischen Kooperation im europäischen Staatensystem 1865-1900, Kassel 2004; Torp, Cornelius, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg. Die erste Welle ökonomischer Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 561-606.
3 Vgl. Aldenhoff-Hübinger, Rita, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914, Göttingen 2002.
4 Vgl. O'Rourke, Kevin H.; Williamson, Jeffrey G., When did Globalisation Begin?, in: European Review of Economic History 6 (2002), S. 23-50.
5 Darauf verweist überzeugend: Schissler, Hanna, Weltgeschichte als Geschichte der sich globalisierenden Welt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1 (2005), S. 33-39.