In der Geschichtsschreibung, insbesondere der außereuropäischen, hat die Erforschung von Infrastrukturen seit einigen Jahren Konjunktur. Jüngere Studien verbinden dabei auf fruchtbare Weise technikgeschichtliche Ansätze mit solchen aus den Wirtschafts- und Kulturwissenschaften.1 Diesem Feld der Neuen Infrastrukturgeschichte lässt sich auch der vorliegende Sammelband zuordnen, welcher auf das von dem Mitherausgeber Paul Nugent initiierte und durch den ERC geförderte Forschungsprojekt „African Governance and Space“ (University of Edinburgh) zurückgeht und auch im Open-Access-Format verfügbar ist.
Im Fokus der zwölf Beiträge stehen Verkehrskorridore in Afrika. Als „transport corridor“ verstehen die Herausgeber dabei „an infrastructural assemblage that connects two or more geographical points across international borders and provides a conduit for the movement of people and goods” (S. 5). In verschiedenen afrikanischen Regionen wurden seit den 1970er Jahren grenzüberschreitende Verkehrsnetze errichtet oder ausgebaut, als Korridore ausgewiesen und als solche gezielt finanziell gefördert. Dabei traten neben nationalen Regierungen insbesondere die Weltbank sowie europäische, amerikanische und chinesische Entwicklungshilfe-Organisationen als Geldgeber auf.
Ziel des Sammelbandes ist es, am Beispiel verschiedener Verkehrskorridore „to understand what the various institutional actors believe they are doing, but also to have a feel for the realities that are unfolding on the ground“ (S. 5). Den Schwerpunkt legen die Autorinnen und Autoren auf die erwähnten institutionellen Akteure, deren Motive und Vorgehen bei Planung, Finanzierung und Bau der Infrastruktursysteme. Ein zweiter Fokus liegt auf dem Betrieb und tatsächlichem Verkehrsaufkommen. Weniger stark entwickelt bleibt dagegen leider der Blick auf die von den Korridoren durchzogenen Räume, deren Anwohnerschaft sowie auf die Nutzerinnen und Nutzer der Straßen und Schienen.
Nach der Einleitung von Paul Nugent und Hugh Lamarque, in der die beiden Herausgeber die Materialität und Temporalität der untersuchten Verkehrskorridore hervorheben, widmen sich die Beiträge von Sidy Cissokho und Isabella Soi der Historizität dieser Korridore. Mit Blick auf Prozesse innerhalb der Weltbank rekonstruiert Cissokho, wie Mobilität und Entwicklung in den 1960er Jahren zunächst diskursiv verknüpft wurden und wie diese später in der Konzeption transnationaler Infrastrukturen als „corridors“ ihren Ausdruck fanden. Die Weltbank wurde zu einer zentralen Förderin von Bauprojekten, so Cissokho, da Verkehrskorridore aufgrund ihres grenzüberschreitenden Charakters zur neoliberalen, auf Freihandel ausgerichteten Agenda der Institution passten. Erscheinen Verkehrskorridore in Cissokhos wissensgeschichtlicher Analyse also eher als diskursives Konstrukt, betont Isabella Soi – dem etwas entgegenstehend – am Beispiel Ugandas die mitunter jahrhundertealten Traditionslinien solcher Mobilitätsnetzwerke. Sie führt die heutigen Waren- und Personenflüsse zwischen dem Hafen von Mombasa, Uganda, Rwanda und der Demokratischen Republik Kongo auf den interregionalen Karawanenhandel des 19. Jahrhunderts zurück.
Anschließend vergleichen Sergio Oliete Josa und Francesc Magrinyà Transportnetzwerke in Europa und Afrika und schlussfolgern, dass der Infrastrukturausbau in Afrika auf „connectedness“ und in Europa auf „connectivity“ (S. 81) ziele, da Verbindungen in Europa gestärkt, in Afrika aber erst geschaffen werden müssten. Wie die beiden Autoren anschließend zeigen, gibt es dennoch Gemeinsamkeiten in der Transportpolitik beider Kontinente und die Organisationsstrukturen sowie Planungspraktiken von EU und Afrikanischer Union gleichen einander. Bruce Byiers und Sean Woolfrey widmen sich in ihrem Beitrag der Konkurrenz verschiedener westafrikanischer Korridore aus Côte d’Ivoire, Ghana und Togo in die Länder Burkina Faso, Mali und Niger, welche selbst keinen Meereszugang haben. Auch der Beitrag von Jérôme Lombard beschäftigt sich räumlich mit der Sahelzone und untersucht am Beispiel des Dakar-Bamako-Korridors, welche Auswirkungen die Konzeption von Korridoren für die durchfahrenen Regionen hat, in diesem Fall Senegal. Er zeigt, dass der Straßenausbau einen „tunnel effect“ (S. 149) nach sich zieht, der vor allem den Zentren Dakar und Bamako dient. In den dazwischenliegenden Regionen sorgt der Durchgangsverkehr dagegen für Unsicherheit und Umweltprobleme.
Nina Sylvanus greift in ihrem Beitrag zum Hafen von Lomé auf Feldforschung und Interviews mit Akteuren in Togo zurück. Dieser Quellenkorpus ermöglicht es ihr, gängige Theorien zur augenscheinlichen Beliebtheit des Hafens bei internationalen Investoren auf ihre Plausibilität zu prüfen. Sie kommt zu dem Schluss, dass politisch-ökonomische Faktoren, etwa die Privatisierung des Hafens in den frühen 2000er Jahren, zentral seien. Die Dominanz neoliberaler Politik sei jedoch nur im historischen Kontext zu verstehen: „it emerges as a process of the longue durée in which colonialism and its complicated processes paves the way for this to happen“ (S. 176). José-María Muñoz kommt in seinem Beitrag zum Wiederaufbau der aus der Kolonialzeit stammenden Douala-Yaoundé-Eisenbahn in den 1970er Jahren auf die Rolle der Weltbank zurück und dokumentiert deren Ringen mit der kamerunischen Regierung um die Finanzierung der Bahn. Auf der Agenda der Weltbank stand dabei nicht eine einzelne Bahnlinie, sondern, wie bereits von Cissokho angedeutet, die Entstehung eines möglichen Verkehrskorridors.
Paul Nugent nutzt das geringe Verkehrsaufkommen auf dem Abidjan-Lagos-Korridor, um jenseits staatlicher Ankündigungen und Weltbank-Prognosen die Existenz dieses Transportkorridors auf den Prüfstand zu stellen. Er stellt überzeugend dar, dass zwar kein durchgehender Korridor die Großregion verbindet, dass aber dennoch veränderte Mobilitätsflüsse feststellbar sind. Denn „the corridor actually functions as a series of segments rather than as an integrated whole” (S. 221) und wird von Händlern auf kürzeren transregionalen und transnationalen Strecken genutzt. Hugh Lamarque beleuchtet anschließend die Konkurrenz zweier Transportkorridore in Ostafrika. Wie er zeigt, versuchen Tansania und Kenia seit den frühen 2010er Jahren, sich einander im Ausbau von Infrastrukturen sowie im Abschluss multilateraler Abkommen zu überbieten, um Haupt-Korridor zwischen den Afrikanischen Großen Seen und dem Indischen Ozean zu werden.
Die beiden abschließenden Beiträge behandeln das gesteigerte Engagement Chinas auf dem afrikanischen Kontinent, welches eng mit der Belt and Road Initiative (in Deutschland als „Neue Seidenstraße“ bekannt) verknüpft ist. Yunnan Chen illustriert am Beispiel des Addis Abeba-Djibouti-Korridors, wie zentral chinesische Kredite für die Realisierung großer Infrastrukturprojekte sind. Während Chen auch aufzeigt, inwiefern die äthiopische Regierung selbst Gestaltungsmacht behält, betont sie die steigende Abhängigkeit von chinesischem Know-how und die kaum zu tilgende Schuldenlast. Diese Einschätzung bestärkt Elisa Gambino im abschließenden Beitrag, indem sie verdeutlicht, dass chinesische Kapitalleihen zwar offiziell als „no-strings attached“ (S. 298), also bedingungslos, erscheinen. In Wahrheit werden die Bauaufträge durch Absprachen aber zu 89 % an chinesische Unternehmen vergeben.
Jeder der thematischen Beiträge, so lässt sich bilanzieren, wirft ein interessantes Schlaglicht auf den Transportsektor einer bestimmten afrikanischen Region. Dabei verdient insbesondere die minutiöse Quellenarbeit Beachtung, welche sich nicht nur auf publizierte Berichte und Archivmaterialien stützt, sondern auch auf zahlreiche Interviews und informelle Gespräche mit Planern und Verwaltern dieser Infrastruktursysteme – und letzten Endes auch auf die Erfahrung der eigenen Nutzung durch einzelne Autorinnen und Autoren. Beachtlich sind zudem das breite regionale Spektrum der einzelnen Beiträge sowie die Vielfalt der vertretenen Disziplinen. Neben Forschenden kommen dabei auch „practitioners“ zu Wort.
In der fachwissenschaftlichen Vielfalt liegt zugleich ein Problem des Bandes. Denn obschon die Herausgeber versuchen Gemeinsamkeiten zu identifizieren, sind viele Beiträge thematisch und methodisch sehr weit voneinander entfernt. Es fehlt ein gemeinsames, transdisziplinäres Forschungsprogramm. Dabei ließe sich mehr Kohärenz schon durch ein anderes Arrangement der Beiträge erreichen, deren Reihenfolge sich nicht erschließt. Dessen ungeachtet werden Forschende aus den Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften sowie aus der Anthropologie und Humangeographie unterschiedliche Beiträge nützlich finden. Es ist das Verdienst des Sammelbandes, ein bisher wenig erforschtes Infrastruktur-Konstrukt – den Korridor – für den afrikanischen Kontinent erstmals in seiner Vielschichtigkeit beleuchtet zu haben.
Anmerkungen:
1 Siehe als Überblick: Ute Hasenöhrl / Jonas van der Straeten, Connecting the Empire. New Research Perspectives on Infrastructures and the Environment in the (Post)Colonial World, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 24 (2016), S. 355–391.