Der von Iris Schröder, Felix Schürmann und Wolfgang Struck herausgegebene Sammelband ist eine - und die letzte - von drei Publikationen, die die Ergebnisse des BMBF-Forschungsverbundes „Karten-Meere: Für eine Geschichte der Globalisierung vom Wasser aus“ präsentieren, der von 2018 bis 2022 an der Universität Erfurt angesiedelt war, aber Kooperationen mit der Forschungsbibliothek Gotha, der Universität Bremen und dem Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven unterhielt.1 In ihrer sehr lesenswerten und thesenreichen Einleitung formulieren sie die zentrale These, dass für die Erfassung der „Ganzheit“ der Meere Karten „als Instrumente par excellence“ (S. 8) gelten können. Die Kartographie entwarf die Welt als ein „globales Ganzes“, sie basierte auf der Zirkulation von Wissen und griff das Praxiswissen von Seeleuten und anderen Akteuren auf (S. 9f). Der Sammelband soll die Geschichte des Globalen mit der maritimen Geschichte zusammenbringen (S. 11) und damit ein Beitrag zur Überwindung des Terrazentrismus leisten (S. 13). Die einzelnen Beiträge greifen unterschiedliche Aspekte dieses Ansatzes auf, mal stehen eher die kartographischen Erzeugnisse im Mittelpunkt der Betrachtung, mal sind es die Praktiken der Kartierung selbst.
Der Beitrag von Julia Heunemann beschäftigt sich im Sinne dieses Ansatzes vor allem mit der Frage nach den Praktiken der Kartierung von Meeresströmungen und der Gewinnung von „Strömungswissen“ im 18. Jahrhundert, wobei ein Beispiel die Untersuchung des Golfstromes ist. Heunemann stellt eine enge Verbindung von Strömungsmessung, kartographischer Darstellung und technologischer Entwicklung fest, wobei sie die Erfindung des Chronometers durch John Arnold als zentral beschreibt (S. 47). Die Messung verzweigter Strömungen und ihre Darstellung auf Karten ermöglichte es, Meeresströmungen als „global verbundene Systeme“ (S. 51) zu verstehen. Heunemann zeigt dabei den Wandel von der Beobachtung lokaler Strömungen hin zum gesamten maritimen Raum und lenkt den Fokus darauf, dass vor der Überwindung des Terrazentrismus auch eine rein lokale Beobachtung im Maritimen zu überwinden war.
Felix Lüttge betrachtet anhand eines Akteurs, Matthew Fontaine Maury, und seiner Netzwerke die Entstehung der US-amerikanischen Ozeanographie im 19. Jahrhundert. Interessant ist dabei, dass Lüttge bei der Betrachtung den Fokus auf die Archivarbeit an Land legt und nicht auf Praktiken auf den Forschungsschiffen. Er nimmt die gesamten „Kulturtechniken ozeanographischer Kartierung“ (S. 59) in den Blick und leistet somit auch auf der Ebene der Praktiken einen Beitrag zur Überwindung des Terrazentrismus bei, ohne dabei jedoch außer Acht zu lassen, dass die ozeanographische Arbeit an Land auf die Datensammlung durch Seeleuten (S. 63) angewiesen war. Er betrachtet die Ozeanographie im Rahmen eines Medienverbundes, dessen kartographische Umsetzung er anhand der Walkarten in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweist.
Frederic Theis zeigt in seinem Beitrag transnationale Verbindungen in der Wissenserzeugung über die Meere in britischen, US-amerikanischen und deutschen hydrographischen Instituten im 19. Jahrhundert auf (S. 89). Trotz imperialer Konkurrenzen tauschten sich zum Beispiel die Deutsche Seewarte und das Reichsmarineamt bis zum Ersten Weltkrieg mit anderen Mächten aus, wobei die Konsulate eine herausragende Rolle spielten (S. 104) Theis‘ Ergebnisse fügen sich damit in die bisherige Forschung zum Internationalismus im 19. Jahrhundert ein, der neben nationalistischen und imperialistischen Abgrenzungstendenzen eine Vielzahl von Kooperationen zwischen Mächten festgestellt hat.
Ruth Schilling behandelt in ihrem Beitrag die Frage nach dem Verhältnis von Schiffsreise und Kartengebrauch, wobei sie „das Schiff als Begegnungsraum“ versteht (S. 119f.). Damit nimmt sie sich der häufig adressierten, aber schwierig zu beantwortenden Frage an, wie Karten in der Praxis der Schifffahrt eigentlich verwendet wurden und liefert Erkenntnisse über die Bedeutung von Praxiswissen.
Iris Schröder nimmt einen zentralen Wandel in der Weltbetrachtung der Kartographen in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick, als in Petermanns geographischen Mitteilungen eine erste ozeanographische Karte erschien. Dieser Wandel wurde durch die zunehmende Mobilität von Waren und Menschen auf den Weltmeeren, imperiale Ansprüche von Seemächten und wissenschaftliches Interesse (S. 135f.) vorangetrieben. Schröder liest die Petermannkarte des Pazifiks von 1857 als „neu[e] Kartographie jenseits des Terrazentrismus“ (S. 144) und liefert damit einen Schlüsselbeitrag zur Hauptthese des insgesamt überzeugenden Sammelbandes. Über weitere Karten des Pazifiks vermag Schröder zu zeigen, dass die Meereskartierung kein wissenschaftlicher Selbstzweck war, sondern auch ein politisches Projekt, das die koloniale Landnahme des deutschen Kaiserreichs vorwegnahm (S. 168).
Zu den Praktiken, die auf Forschungsschiffen Anwendung fanden, trägt Sybilla Nikolow bei, indem sie den Forschungsalltag auf einem Forschungsschiff am Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Kartierung der Bouvet-Inseln im Südatlantik darlegt. Die Ergebnisse dieser deutschen Tiefseeexpedition sind dabei kein Einzelfall der Ozeanforschung, sondern waren mit weiteren Forschungseinrichtungen verbunden, die von ihnen profitierten (S. 199). So gelingt es Nikolow, die Praktiken auf dem Meer mit jenen an Land zu verbinden, was in der Gesamtlektüre des Bandes erhellende Synergien u.a. mit dem Beitrag von Felix Lüttge hervorbringt.
Wolfgang Struck und Elena Stirtz betrachten aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, wie in Atlanten mit dem Spannungsfeld „aus Ver- und Entbergen, Übersicht und Unübersichtlichkeit, Ästhetik und Anästhetik“ (S. 205) des Meeres umgegangen wurde. Als Beispiele dienen der 1850 erschienene "Allgemeine Hydrographische Atlas" von Berghaus, die 1868 erschienene fünfte Auflage von Stielers Handatlas und der in den 1890ern entstandene See-Atlas von Justus Perthes. Ein weiterer Beitrag von Elena Stirtz wendet sich der (erstaunlicherweise nur in einer Fußnote explizierten !) Frage zu, inwiefern das Meer in verschiedenen Medien des 20. Jahrhunderts eine Figur oder Grund war, um den Terrazentrismus zu überwinden (S. 235). Als Beispiele dienen Literatur, Populärkultur sowie exemplarische Karten von Hawaii des 20. Jahrhunderts. Stirtz kommt zu dem Schluss, dass in mediale Aufbereitungen Darstellungen zu finden sind, die das Meer in den Fokus rücken (S. 264).
Felix Schürmann wendet sich anhand der Kartierung der Kongo-Mündung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Übergangsräumen zwischen Meer und Binnenland zu, wobei die Frage im Vordergrund steht, was diese speziellen Übergänge zur Überwindung der Meer-Land-Dichotomie beigetragen haben (S. 272). Als Beispiel dient u.a. die River Congo-Karte der britischen Admiralität, die eher die Unterbindung des Handels in den Mittelpunkt rückte und daher die Flussmündung dem Meer zusprach (S. 279). Ab den 1870er Jahren wurde die Kongo-Mündung dann u.a. durch weitere Expeditionen zunehmend als Möglichkeitsraum begriffen, was sich kartographisch in der Erweiterung solcher Karten um Nebenflüsse und weitere topographische Merkmale sowie in der Aufnahme lokalen Wissens zeigte. Die zuvor scharf gezogene Grenze zwischen Meer und Land wurde in diesen Karten zunehmend aufgeweicht.
In den einzelnen Beiträgen kommen die zentralen Fragen des Sammelbandes unterschiedlich zum Tragen, wobei ein deutlicher Schwerpunkt auf der Untersuchung von Praktiken der Weltbeschreibung an einzelnen Fallbeispielen sowie der Fokussierung auf einzelne Akteur*innen liegt – die These einer Überwindung des Terrazentrismus wird dabei meist nur indirekt angesprochen oder weiterentwickelt. Die hervorragende Einleitung liefert aber eine Synthese, zu der alle Texte beitragen. Der Anspruch des Bandes war es, den Terrazentrismus der Globalgeschichte zu überwinden und diese vom Meer aus zu denken. Es wäre daher wünschenswert gewesen, in einigen Beiträgen über Anschlusspunkte an die Globalgeschichte bzw. transnationale Geschichte, aber auch über Verbindungen zur Kartographiegeschichte zu lesen. Damit wären die interessanten Einzeluntersuchungen in größeren Forschungskontexten sichtbar geworden. Positiv hervorzuheben ist, dass der Sammelband gut platzierte Farbabbildungen enthält, was auch in der Kartographiegeschichte nicht selbstverständlich ist.
Anmerkung:
1 Vgl. für die anderen beiden Publikationen: Wolfgang Struck / Iris Schröder / Felix Schürmann / Elena Stirtz (Hgg.): Karten-Meere. Eine Welterzeugung, Wiesbaden 2020; Ruth Schilling / Wolfgang Struck / Frederic Theis / Florian Tüchert (Hgg.): Karten-Reisen. Von Meereswissen und Welterfahrung, Wiesbaden 2021.