Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert

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Titel
Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag


Herausgeber
Elz, Wolfgang; Neitzel, Sönke
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
556 Seiten
Preis
68,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jan Meine Zentrum für Höhere Studien Universität leipzig jan.meine@uni-leipzig.de

Die 30 Beiträge dieses Bandes sind nach den bearbeiten Zeitabschnitten geordnet, so dass der Leser von Muriel E. Chamberlains „Lord Stratford de Redcliffe an the Near East, 1808–1880“ zu Lothar Freischladers persönlicher Sicht auf den 2. Golfkrieg als Diplomat in Saudi-Arabien 1990/91 sukzessive durch rund 200 Jahre internationale Beziehungen geführt wird. Darin – und das gleich vorweg – ist wohl auch das schwerwiegendste Problem des Bandes zu sehen: Was die einzelnen Beiträge zusammenhält ist die Sympathie für den Bedachten dieser Festschrift, Winfried Baumgart, sowie ein breites Verständnis von internationalen Beziehun-gen. So versucht der Band geistesgeschichtliche Prozesse (z. B. Heinz Hürten: „Der 8. Mai 1945 als historische Zäsur. Eine Überlegung zur Problematik geschichtlicher Epochenbildung und des historischen Bewusstseins einer Nation“), völkerrechtliche Entwicklungen (z. B. Jost Dülffer: „Vom Internationalismus zum Expansionismus: Die Deutsche Liga für Völker-bund“), militärische Strategien (z. B. Hew Strachan: „German Strategy in the First World War“), innenpolitische Motivationen für außenpolitisches Handeln (z. B. Sönke Neitzel: „’Mittelafrika’. Zum Stellenwert eines Schlagwortes in der deutschen Weltpolitik des Hoch-imperialismus“) sowie Einstellungen zu Krisen, Kriegen und Friedensschlüssen (z. B. Martin Kitchen: „’Siegfrieden’ or ’Verzichtfrieden’? German Generals’ Assessment of the Situation in the Spring and Summer of 1918“ oder Michael Kißener: „’Vergangenheitsbewältigung’ im Vergleich. Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“) zu bearbeiten.

Es fragt sich natürlich, von welchem Verständnis der internationalen Beziehungen in der vor-liegenden Festschrift ausgegangen wurde. Um die 30 Beiträge zusammenzuhalten, wurde wohl auf eine Erörterung – z. B. durch die Herausgeber – verzichtet. Aus jedem einzelnen Text der Festschrift muss der Leser sich das inhärente Verständnis des jeweiligen Autors von internationalen Beziehungen selbst erlesen. Es geht bei dieser Kritik nicht darum zu sagen, dass solch eine Aufgabe dem geneigten Leser nicht zuzumuten sei, sondern um die wissen-schaftliche Relevanz der Aneinanderreihung von so disparaten Texten wie in dem hier be-sprochenen Band; wobei selbstverständlich das Anliegen einer Festschrift weitergehend ist – und dies soll hier auch nicht angezweifelt werden.

Das Vorwort der Herausgeber Wolfgang Elz und Sönke Neitzel widmet sich der Person Win-fried Baumgart und dem Versuch von Baumgarts Flüchtlingsbiographie ausgehend den Aka-demiker mit spezifischen, hier geschilderten Eigenschaften „zu erklären“. Den Schluss der Festschrift bildet ein Schriftverzeichnis Baumgarts sowie die von ihm betreuten Habilitatio-nen und Dissertationen. Worauf hingegen – leider – verzichtet wurde ist eine die einzelnen Beiträge integrierende Einleitung. Nicht, dass ein Eindruck der Willkür in der Auswahl der Beiträge zurückbleiben würde, dafür ist die Fokussierung auf Themen, die Baumgarts Domä-ne sind – die internationalen Beziehungen am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhun-derts – zu deutlich, aber der sie verbindende Aspekt bleibt unklar. Bis auf wenige Beiträge, wie z. B. Ann Pottinger Saab („Disraeli, India, and the Indians: 1852–58“), Hans-Christoph Kraus („Geschichtsschreibung als Schule der Politik. Zum Werk von John Robert Seeley“) oder Heinz Duchhardt („’Kernbildungen’. Ein lettisches Europa-Projekt aus dem Jahr 1932“) haben andere Texte mindestens immer indirekten Bezug von, zu oder auf Deutschland, was dem Ansatz Internationale Beziehungen zwar nicht widerspricht, aber doch fokussiert und den Herausgebern neben dem Titel der Festschrift auch einen spezifizierenden Untertitel hätten spendieren können. Internationale Beziehungen, die in den Jahren 1800 bis 1990 in dieser Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag betrachtet werden, sind eben vor allem Betrachtungen, die an zentralen Konfliktpunkten dieser Jahre mit ihren Beiträgen ansetzten. Außen vor bleiben zum einen generelle Fragen an die Entwicklungen der internationalen Be-ziehungen und zum anderen eine ausgewogene Auswahl von geografischen – z. B. zu Latein-amerika, aber auch die USA – wie auch thematischen Beiträgen, wie z. B. kulturelle und wirt-schaftliche Aspekte.

So seien hier einige Beiträge näher betrachtet, weil sie dem Rezensenten weiterführend er-schienen. Der Beitrag von Johannes Hürter betrachtet den Vertreter des Auswärtigen Amts (VAA) bei der 11. Armee auf der Krim 1941/42, Werner Otto v. Hentig, und dessen Berichte an das Auswärtige Amt. In außergewöhnlich deutlichen Worten schildert und bemängelt v. Hentig die Situation der Zivilisten aber auch der Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht. Mit v. Hentigs Kritik an den deutschen Befehlshabern sowie der Wehrmacht verbindet er vier klare Forderungen: 1. Maßnahmen zur Verbesserung des „Kampftons“, 2. die strenge Einhal-tung des Völkerrechts, 3. es sollte nicht allein „auf Verdacht hin“ die „beliebte einfache Lö-sung des Erschießens“ angewendet werden und 4. sollte auch den Kriegsgefangenen ärztliche Hilfe gewährt werden (S. 362). Hürter stellt mit der Aufarbeitung der offiziellen Berichte ei-nes Vertreters des Deutschen Reiches fest, dass die „schwerwiegendsten deutschen Verfeh-lungen – die Verbrechen gegen Kriegsgefangene, Juden und Partisanen, die schlechte Be-handlung der Bevölkerung, die rassenideologische Haßpropaganda – unverhohlen angespro-chen“ wurden. Hürters Text kann eindeutig zeigen, dass die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Dritten Reichs bei weitem noch nicht ausreichend erforscht sowie in der bisheri-gen Forschung unterrepräsentiert ist; was nicht zuletzt an Debatte um die Gedenk- und Nach-rufpraxis des heutigen Auswärtigen Amtes zu erkennen ist. Eine Aufarbeitung der Rolle und Geschichte des Auswärtigen Amtes durch eine Historikerkommission – wie im Falle der Jus-tiz – sei längst überfällig. Johannes Hürter weist auch auf die VAA-Berichte im Allgemeinen hin, die als Quellen von der Forschung noch nicht ausreichend beachtet wurde; besonders der „lange schlecht erschlossene[n] und wissenschaftlich[e] vernachlässigte[n] kulturpolitische[n] Bestand“ biete eine „bemerkenswerte Ergänzung zu den umfänglichen Hinterlassenschaften der militärischen, polizeilichen und wirtschaftlichen Dienststellen“ (S. 367 f.). Es bleibt zu hoffen von Johannes Hürter – der Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur“ am Institut für Zeitgeschichte in Mün-chen ist – weitere so erhellende Studien vorgelegt zu bekommen.

Dass diplomatische Berichte eine zentrale Quelle für die Analyse außenpolitischer Vorgänge sein können, zeigt Konrad Canis in seinem Beitrag „Die deutsche Außenpolitik im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg im Lichte österreichisch-ungarischer diplomatischer Be-richte“. Canis betont – und geht hierbei mit Winfried Baumgart d´accord – „den hohen Aus-sagewert solchen Materials für die strukturelle wie für die narrative Darstellung“ (S. 108). Ob sein Argument, dass Außenpolitik von einem kleinen exklusiven Personenkreis geführt und inspiriert und dabei von den „im Ausland akkreditierten Diplomaten“ (S. 108) informiert wird auch heute noch in gleicher Weise Gültigkeit besitzt, muss hier leider unbeantwortet im Raum stehen bleiben; für die Zeit der großen europäischen Kabinette mag dies jedoch zutreffen, auch wenn die Essenz der Informationen ein subjektives Bild zeichnet, so ist der Einfluss durch diplomatische Berichte nicht von der Hand zu weisen: „Wertvorstellungen und Er-kenntnisgrenzen, die Mentalität der Angehörigen dieser relativ kleinen Elite vermochten auf außenpolitische Entscheidungen erheblichen Einfluß zu nehmen. […] Gerade für die Zeit von 1904 bis 1914 könnte die genauere Analyse der Mentalität der Diplomaten zur Aufhellung beitragen“ (S. 124 f.).

Dass die Kenntnisse und Informationen eines Diplomaten auch am Ende des 20. Jahrhunderts andere sind als die der Medienvertreter – im eigenen oder aber auch im Gastland – ist eine Binsenweisheit. Trotzdem ist es angebracht auch darauf immer wieder hingewiesen zu wer-den und Informationen dieser Art als Quellen zur Rekonstruktion historischer Ereignisse zu nutzen. Lothar Freischlader war als junger Diplomat 1990/91 in Saudi-Arabien und erinnert sich an den 2. Golfkrieg. Für eine extrem unterschiedliche Sicht der Dinge sei folgendes Bei-spiel zitiert: „Über die vereinzelten Panikkäufe in deutschen Supermärkten konnten wir nur lachen, aber das massive Realitätsdefizit, das in beinahe allen deutschen Sendern […] und Zeitungen herrschte, erschreckte uns sehr“ (S. 486).

Insgesamt betrachtet ist der Band „Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert“ eine gelungene Festschrift für Winfried Baumgart, die wohl den Interessen und Perspektiven Baumgarts – der in den vergangenen Jahren erheblich dazu beigetragen hat, dass der Bereich der internationalen Beziehungen auch als historische Disziplin einen Aufschwung nahm – ge-recht wird. Als ein Band über die internationalen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert kann dieser Sammelband aber nicht empfohlen werden. Die Disparitäten der Texte spiegeln zwar auch die so vielschichtigen internationalen Beziehungen, dies aber – leider – zu unent-schieden. Zieht man zusätzlich den Preis von 68,- EUR in Betracht so verschiebt sich Per-spektive noch einmal: Dafür erwirbt der Leser anderswo ein, zwei oder drei umfangreiche – ihn interessierende – Einzelstudien oder auch Überblickswerke.

Redaktion
Veröffentlicht am
29.04.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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