Zeitschrift für Weltgeschichte 14 (2013), 1

Title 
Zeitschrift für Weltgeschichte 14 (2013), 1
Other title information 
Transnationale Unternehmen – Globale Netzwerke und lokales Engagement

Published on
München 2013: Martin Meidenbauer
Frequency 
zweimal jährlich
Extent
195 S.
Price
€ 49,00

 

Kontakt

Organization name
Zeitschrift für Weltgeschichte
Country
Germany
c/o
Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte Bullerbachstr.12 D-30890 Barsinghausen Tel +49 5105 64 332
By
Bertram, Michael

Mit Durchsetzung der Industrialisierung im 19. Jahrhundert von ihrem Ausgreifen von Nordwest Europa und Nordamerika auf die Welt wurden auch ihre wesentlichen Errungenschaften sukzessive exportiert. Zunächst in Form von Waren, sodann von Investitionsgütern und schließlich wurde mehr oder weniger systematisch in verschiedenen Teilen der Welt in Infrastruktur sowie Produktionsanlagen investiert, um vor Ort für regionale Märkte in Übersee zu produzieren. Dieser Prozess wurde Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff „Weltwirtschaft“ subsummiert, wobei man diesen Terminus ebenso für die Jahrhunderte zuvor benutzen kann – dann allerdings ohne moderne Infrastruktur, das Fabriksystem und vor allem ohne die systematische globale Arbeitsteilung.

In der vorliegenden Ausgabe der ZWG interessieren weniger die ökonomischen Beziehungen der Weltwirtschaft, sondern ihr Trend zur globalen Vernetzung, insbesondere das Spannungsfeld zwischen den handelnden politisch und kulturell national geprägten Subjekten und einem internationalen besser noch weltweiten Umfeld. Wie wirkt sich das Wissen über den internationalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen aus? Für Immanuel Kant war klar: In einer vom ewigen Frieden garantierten, sich in freiem Handel austauschenden Welt wirft der Bürger seine enge lokal, regional und national geprägte Schale ab und wird zum Weltbürger, dem dann über kurz oder lang eine politische Weltstruktur folgt. So einfach verlief die seitherige Entwicklung jedoch nicht. Die Globalisierungsvorgänge erwiesen sich als komplizierter. Die transnationalen Unternehmer, die das Geschäft seit einigen Jahrhunderten in alle Winkel der Welt trieb und treibt, bleiben bisher noch national verhaftet. Das gilt auch, wenn sie die Seite wechselten und ausgewandert sind. Es scheint selbst dann noch zu gelten, wenn sie de facto gleichzeitig an mehreren Stellen der Welt leben und hin und her pendeln. Die Frage ist also eher: Wie wirkt sich die Spannung zwischen den Akteuren der Weltwirtschaft und ihren lokalen wie nationalen Identitäten aus? Was bedeutete das Engagement in einem international operierenden Geschäft für die politische Einstellung? Wie wirkt sich Weltgewandtheit im lokalen Kontext aus? Hatte sie progressive, konservative, allgemein kritische Einstellungen zur Folge? Was folgt daraus die kulturellen Einstellungen? Welche Rolle spielte das internationale Geflecht an persönlichen Kontakten und engen persönlichen Beziehungen im lokalen Umfeld? Wie verhalten sich dabei Geschäft und öffentliches Engagement und ist dahinter vielleicht sogar ein System erkennbar, etwa die Volatilität des geschäftlichen Wirkens auf den trans- und internationalen Märkten eine Bindung oder sogar feste Verwurzelung entgegenzusetzen? Das Schwerpunktthema „Transnationale Unternehmer – Globale Netzwerke und lokales Engagement“ hat viele Dimensionen und auf viele Fragen werden nur fragmentarische, vorläufige Antworten gegeben werden können.

Jann Hüsgen zeigt in seinem Beitrag über die Herrnhuter und ihre unternehmerischen Aktivitäten in der Karibik, wie sich eine religiöse Minderheit fernab ihrer Herkunft in der Fremde behauptete und früh in der globalen Zuckerproduktion engagierte. Er untersucht auch, wie sie dabei mit der Sklaverei in Berührung kam und welche Konflikte dies im Hinblick auf die religiösen Überzeugungen der Brüdergemeinde auslöste. Auch Adelheid von Saldern liefert lange vor Ende des 19. Jahrhunderts Beispiele für transnational agierende Unternehmer, indem sie ein rheinisches Textilunternehmen – in diesem Fall die Kaufmannsfamilie Schöller – und sein grenzüberschreitendes Netzwerk im frühen 19. Jahrhundert analysiert und systematisch Aufbau und Struktur eines derartigen Netzwerks unter die Lupe nimmt.

Neben den immens ausgeweiteten traditionellen Handel mit Waren und punktueller Plantagenproduktion aller Art trat Ende des 19. Jahrhunderts der Kapitalexport in großem Stil auf. Es ging um die zur Verfügungstellung von Finanzmitteln, damit an den diversen „Enden“ der Welt Produktion in Gang gesetzt werden konnte oder um Infrastrukturen für analoge Zwecke zu intervenieren. Die auf dem industrialisierten Produktionsprozess basierende Weltwirtschaft begangen, als der Nationalismus seinen Höhepunkt erreichte, also mit Abschluss der Etablierung einer ganzen Reihe neuerer größerer und mittlerer Nationalstaaten, die erst auf europäischer Bühne und dann in der Weltpolitik an Einfluss gewannen und das System der traditionellen Empires Großbritannien, Frankreich, Russland, Habsburg sowie das Osmanische Reich und China infrage stellten. Es handelte sich dabei um die USA, wie sie aus dem Bürgerkrieg hervorging, Italien sowie Deutschland und Japan. Von dieser Plattform fest umrissener nationaler Einheiten schwärmten immer mehr Kaufleute, Ingenieure, Fabrikanten, Unternehmer aller Art in die Welt hinaus, auf der Suche nach neuen und der Anwendungen verschiedener technischer Investitionen, Rohstoffen aller Art, Absatzmärkte für Waren der industriellen Produktion sowie nach Anlagemöglichkeiten der in immer größerem Dimensionen akkumulierten Kapitalmassen. Ihr Feld war nach den Worten von Albert Ballin, dem Direktor der HAPAG in Hamburg, die Welt. Was für die großen Reeder per se gilt, traf auch immer mehr auf die Erbauer der die Welt durchdringenden Verkehrs- und Kommunikationsnetze zu. Parallel zu den Eisenbahnen und Nachrichtennetzen entwickelte sich die Rohstoffexploration für die immer weiter ausgreifenden industriellen Produktionsprozess zu einem großen Markt für transnational agierende Unternehmen. Rohstoffe, das hieß im 19. Jahrhundert vor allem Baumwolle für die Textilindustrie, sodann Kohle als Energieträger zu dem Ende des 19. Jahrhunderts Erdöl hinzukam. Dann natürlich Metalle aller Art für die Schwerindustrie, den Maschinenbau und in zunehmenden Maße die Chemie- und Elektroindustrie. Der Metallhunger der Industriegesellschaften ließ auf hohe Gewinne hoffen und das führte zur Gründung zahlreicher neuer Aktiengesellschaften an der New Yorker und Londoner Börse. Allein hier stieg die Anzahl derartiger Unternehmen von 1863-1897 von 760 auf 4750 von einer Gesamtmenge von 29.730 Geschäften an. Das war der größte Boom in der Bergbauindustrie überhaupt, was mit ein Grund für das Kolonialfieber jener Zeit gewesen ist.

Über die Folgen all dessen gab es Anfang des 20. Jahrhunderts eine ausufernde Diskussion, wie dies die Gesellschaft weiter beeinflussen würde und was für politische Implikationen dies hätte. John A. Hobson zog als erster weitreichende Schlüsse, andere Deutungen der Weltpolitik und des Imperialismus folgten. Als Grund für das stark gestiegene Interesse an Überseeinvestitionen gab er einen erwarteten surplus an und betrachtete das Phänomen insgesamt als Flucht vor den sinkenden Verwertungsraten auf dem Binnenmarkt. Peter Cain und John Hopkins haben darauf hingewiesen, dass dies nur ein Grund unter mehreren gewesen ist. In der Folge bauten sich nicht nur Beziehungen von Ländern, die Rohstoffe lieferten und entwickelten Industriestaaten, die Rohstoffe verbrauchten auf, sondern ein weltweites Netz gegenseitiger Abhängigkeiten. Vor allem aber entwickelten sie spezielle Unternehmer, welche die weltweiten Angebote und Nachfragen nach Rohstoffen, Arbeitskräften und Kapitalressourcen vermittelten, und zwar nicht nur für ihr jeweiliges eigenes Land, sondern für viele Länder.

Klaus Weber nimmt diesen Faden auf und zeigt in „Diamonds & Charity“ wie sich in London die Aktivitäten international agierender jüdischer Bankiers mit den Auswanderungsströmen osteuropäischer Juden und dem Arbeitskräftebedarf der Gold- und Diamantenminen in Südafrika verbanden. Der Herausgeber widmet sich einem ganz ähnlichen und doch wieder völlig anderen Komplex, indem er am Beispiel des global agierenden Metallhändlers Wilhelm Merton und des Investitionsbankiers Charles Hallgarten die weltumspannenden Aktivitäten zweier Unternehmer skizziert und sie in Beziehung zu ihrer lokalen Umwelt setzt. Die Welt lieferte hier das Mittel für den Restrukturierungsversuch einer lokalen Bürgergesellschaft mit durchaus übergreifenden, grundsätzlichen Anspruch. Tobias Brinkmann greift schließlich mit der jüdischen Auswanderung aus Osteuropa und dem Engagement amerikanischer Investmentbanker und deutscher Reeder einen weiteren Aspekt transnationaler Aktivitäten von Unternehmern auf und diskutiert unter der Fragestellung „Profit vs. Solidarität“ in welcher Rolle und aus welchen Motiven sie sich der dramatischen Massenauswanderung aus Russland zugewendet haben.

Die groben Züge einer Weltwirtschaft um 1900 mit dem trans- und internationalen Transfer von Waren, Arbeitskraft und Kapital mündete im 20. Jahrhundert – gehemmt aber nicht unterbrochen von zwei Weltkriegen, einer großen Weltwirtschaftskrise sowie einer Teilung der Welt im Kalten Krieg – in das sogenannte Zeitalter der „Globalisierung“ ein, die auch als extrem gestiegene Weltwirtschaft von rund 100 Jahren zuvor beschrieben werden kann. In zwei Beiträgen werfen wir für die Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts einen Blick auf die Probleme von grenzüberschreitenden Kooperationen und Weltkonzernen und greifen dabei auf die Erfahrungsberichte von Akteuren bei internationalen Konzernen zurück. Burkhard Bresslauer führt uns in die Welt von IBM und zeigt, wie sich der globale Kommunikationskonzern in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Den Abschluss des Themenschwerpunktes bildet Arnold Heitzig, der sich mit dem Thema der Exportfinanzierung einer deutschen Großbank und ihres Umbaus zu einem internationalen Konzern auseinandersetzt. Darüber hinaus war noch ein Beitrag von Michael Sander vorgesehen, die er hinter den Kulissen deutsch-russischer Interfirmennetzwerke bei den Verhandlungen un die Nord Stream Pipeline und zum Gasfeld Yuzhno Ruskoje schaut. Aus Platzgründen musste er auf die Ausgabe 14.2 der ZWG verschoben werden.

Die vorliegende Ausgabe enthält außerdem einen Nachtrag zum Themenschwerpunkt des letzten Heftes über „Nachholende Entwicklung“. Imre Levai und Peter Szatmari werfen die Frage auf, ob es sich bei den verschiedenen Modernisierungspfaden um ein Catch-up oder nicht einfach um ein Take off handelte und kommentieren den Beitrag Andrea Komlosy, die sich mit verschiedenen Konzepten nachholender Industrialisierung befestigt und Kriterien für Erfolg und Scheitern zusammengestellt hatte.

Das Heft enthält diesmal zwei Reviews von Christoph Mertl und Klemens Kaps zum Beitrag von Angela Schottenhammer und Peter Feldbauer zur Globalgeschichte: „Die Welt 1000–1250“ sowie zu Wallensteins vierten Band zum modernen Weltsystem über den „Siegeszug des Liberalismus (1789–1914)“, der gerade erschienen ist. Rezensionen über Veröffentlichungen zur kolonialen Globalisierung. Theories and Approaches in a Connected World, die Entstehung Europas in der Spätantike und dem Frühmittelalter, eine People‘s History oft he Word sowie über Connecting Seas and Connnected Ocean Rims runden diesmal den Blick auf die Geschichte des Weltsystems ab.

Ralf Roth

Table of contents

INHALT

Jan Hüsgen
Die Herrnhuter Brüdergemeine als globales Unternehmen

Adelheid von Saldern
Ein rheinisches Textilunternehmen und sein transregionales Netzwerk

Klaus Weber
Diamonds & Charity: Imperiale Dimensionen jüdischer Wohlfahrtspflege in London im Kontext der osteuropäischen Migration 1885–1919

Ralf Roth
Alles über Metallhandel, Eisenbahnen und wie die soziale Frage zu lösen ist. Frankfurts Global Players Charles Hallgarten und Wilhelm Merton in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg

Tobias Brinkmann
Profit vs. Solidarität? Jacob Schiff, Albert Ballin und die jüdische Auswanderung aus Osteuropa 1890–1914

Burkhard Breslauer
Von der Datenverarbeitung zur Informationstechnologie: Mythos IBM

Arnnold Heitzig
Globale Netzwerke und lokales Engagement am Beispiel der Commerzbank als international operierender Großbank

Imre Levai, Peter Szatmari
Pfade der Modernisierung: catch-up oder take off?

Christoph Mertl
Review: Angela Schottenhammer, Peter Feldbauer (Hg.): Die Welt 1000–1250

Klemens Kaps
Review: Immanuel Wallerstein: Das moderne Weltsystem IV

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07.07.2013
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