Editorial
Es ist eine bewährte Tradition der Zeitschrift für Weltgeschichte, einzelne Ausgaben bestimmten Themenbereichen zu widmen, herausgegeben von ausgewiesenen Fachleuten. Zukünftig soll dies so weit wie möglich zum Prinzip unserer Zeitschrift gemacht werden. Jedes Heft wird eine Reihe Beiträge zu einem welt- oder globalhistorischen, auch interdisziplinär interessanten Themenbereich versammeln. Darüber hinaus werden jedoch auch weiterhin Einzelbeiträge aus der aktuellen Forschung ihren Platz finden. Angebote hierzu nimmt die Herausgeberschaft jederzeit gern entgegen. Ergänzt wird jede Ausgabe zudem selbstverständlich durch Buchbesprechungen und andere aktuelle Rubriken.
Der Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe beschäftigt sich mit Planstädten im Zeitalter der Aufklärung und geht auf eine Konferenz zurück, die im Herbst 2017 an der Universität Wien von Ulrich Hofmeister und Kerstin Jobst organisiert worden ist. Gerade im späten 17. Und im 18. Jahrhundert wurden in ganz Europa wie auch in überseeischen Kolonien Städte am Reißbrett entworfen, die der Erschließung neu eroberter, weit entfernter oder dünn besiedelter Gebiete dienen sollten. Teilweise aufbauend auf bestehenden Ortschaften und Festungen, teilweise auf der grünen Wiese, mitten im Wald oder auch in Sumpfgebieten wurden Städte planmäßig angelegt oder ausgebaut, um die umliegenden Regionen zu besiedeln, administrativ zu erschließen, militärisch abzusichern und wirtschaftlich in Wert zu setzen. Auch wenn planmäßig angelegte Städte auch aus nicht-europäischen Kulturen bekannt sind, widmet sich dieses Themenheft nur solchen Planstädten, die aus der europäischen Städtebautradition hervorgegangen sind. Dies schließt aber auch europäische Städtegründungen in den Überseekolonien ein, die ebenfalls auf dem Gedankengut der Aufklärung beruhen.
Die behandelten Städte werden in diesem Themenheft von Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Disziplinen und mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten untersucht. Den Auftakt für die Beiträge dieses Themenhefts macht der Historiker Ulrich Hofmeister, der in einem kurzen konzeptionellen Beitrag die Planstädte der Aufklärung im Spannungsfeld zwischen repräsentativer Ideenstadt und pragmatischer Funktionsstadt verortet. Er schlägt vor, die Planstadt nicht als eigenen Städtetyp zu fassen, sondern vielmehr als Forschungsperspektive, die die drei Ebenen Lage, Besiedlung und Bebauung der Stadt umfasst. Im nächsten Beitrag folgen die grundlegenden Überlegungen des Mittelalterhistorikers Peter Johanek zu Ursprung und Charakter der neuzeitlichen Planstadt. Johanek wiederlegt die Vorstellung eines klaren Gegensatzes zwischen „Planstädten“ und „natürlich gewachsenen Städten“ und plädiert dafür, Planstädte nicht nach rein formalistischen Gesichtspunkten zu definieren und zu analysieren, sondern auch die gesellschaftlichen Vorstellungen bedenken, die der jeweiligen Stadt zugrunde liegen und die sich vor allem in der Rechtsordnung niederschlagen. Das nicht alle nachfolgenden Beiträge dieses Themenhefts diese Anregung im gleichen Maße aufnehmen, liegt auch an den unterschiedlichen disziplinären Interessen der Autorinnen und Autoren. Charakteristisch für die Bandbreite an Zugängen sind die beiden Beiträge, die sich mit vollständig neu gegründeten Städten beschäftigen. So stellt Thomas Wenderoth, ausgebildeter Architekt und Denkmalpfleger, in seinem Beitrag zur 1686 gegründeten Neustadt Erlangen städtebauliche Fragestellungen in den Vordergrund. Wenderoth belegt anhand eines Stadtentwurfs von Johann Moritz Richter die Komplexität dieser Stadt. In der fürstlichen Gründung wurde nicht nur die Lage der Straßenzüge, Plätze und wichtigen Bauten festgelegt, sondern auch die Höhe und Grundrisse der Häuser wurden vorgeschrieben. Doch trotz seiner Differenziertheit erwies sich der Entwurf als extrem anpassungsfähig, wie sich zeigte, als Erlangen nach einigen Jahren zur Residenzstadt erhoben und weiter ausgebaut wurde. Die Hispanistin Alexandra Gittermann hingegen diskutiert anhand der „Neuen Siedlungen“, die 1767 in Andalusien angelegt wurden, wie Städtegründungen als Instrument merkantilistischer Wirtschaftspolitik eingesetzt wurden. Die wohlüberlegte Lage der Siedlungen zeigt ebenso wie die strenge Auslese der Bewohner, dass die Planung konsequent von Nützlichkeitskriterien bestimmt war. Die Allgegenwart königlicher Symbole im Stadtbild wiederum machte den absoluten Herrschaftsanspruch des Souveräns deutlich. Wenn eine Stadt nicht völlig neu gegründet wurde, sondern auf der Basis einer bereits bestehenden Siedlung errichtet wurde, schränkte dies die Gestaltungsfreiheit der Planer ein, auf der anderen Seite konnten aber bestehende Baustrukturen sowie eine bereits ansässige Bevölkerung zumindest teilweise übernommen werden. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist die Umgestaltung Temeswars durch die Habsburger, die in dem Beitrag der Historikerin Sandra Hirsch vorgestellt wird. Im Zuge der Eroberung der Stadt durch kaiserliche Truppen im Jahr 1716 mussten die bisherigen osmanischen Herren die Stadt verlassen, so dass der Neubau der Festung sowie die barocke Umgestaltung der Stadt ohne großen Widerstand durchgeführt werden konnte. Dennoch konnte die neue Verwaltung ihre Vorstellungen nicht vollständig umsetzen und war gezwungen, vor allem in Bezug auf die Zusammensetzung der Bevölkerung Kompromisse einzugehen und auch Orthodoxe und Juden als Bewohner der Festung zu akzeptieren. Die Kunsthistorikerin Natalia Tuschinski wiederum zeigt anhand des russischen Marktfleckens Irbit die Grenzen des ambitionierten Umbauprogramms auf, das Katharina II. dem Süden ihres Reiches verordnete. Irbit war 1775 von der Zarin per Federstrich zu einer Stadt erhoben worden. Dadurch wurden nicht nur die Bewohner des Ortes ―überwiegend Bauern und ehemalige Soldaten ― zu Stadtbürgern ernannt, auch das Ortsbild sollte dem neuen Status als Stadt angepasst werden. Regelmäßige Straßenzüge und funktionelle Steinbauten sollten den Rahmen für ein neues, zivilisierteres Leben der Stadtbewohner bilden. Doch im Gegensatz zu größeren Städten, in denen derartige Umgestaltungen auch umgesetzt wurden, waren die Beharrungskräfte in Irbit offenbar so groß, dass auch nach Jahrzehnten kaum Veränderungen zu sehen waren. Der Diskrepanz zwischen dem Geplanten und der Umsetzung ist auch der Beitrag des Nordamerikahistorikers Andreas Hübner zu New Orleans gewidmet. Die Stadt wurde als Sinnbild der kolonial-urbanen Ordnung geplant, mit Befestigungswällen, regelmäßigen Straßenanlagen und je nach sozialem Status getrennten Wohngebieten. Doch obwohl all diese Maßnahmen nicht umgesetzt wurden, erlangten sie Wirksamkeit und damit Wirklichkeit, wie Hübner argumentiert. Der Globalhistoriker Jürgen G. Nagel schließlich lenkt in seinem Beitrag zu mehreren Handelsstädten von Ostindienkompanien den Blick auf die Handlungsmacht der asiatischen Stadtbewohner. Der Planungswille der Europäer geriet in Städten wie Batavia oder Singapur schnell an seine Grenzen. Eine Teilung in ethnische Stadtviertel entsprach durchaus auch den gängigen Gegebenheiten, doch eine strikte Trennung der Bevölkerungsgruppen erwies sich als ebenso wenig durchsetzbar wie ein regelmäßig geordnetes Stadtbild. Letztendlich ähnelten die neu gebauten Städte weniger ihren europäischen Vorbildern als vielmehr ihren asiatischen Nachbarn.
Die in diesem Themenheft behandelten Städte liegen auf drei Kontinenten, und die beschriebenen Entwicklungen umfassen einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten. Doch alle vorgestellten Städte haben gemeinsam, dass sie zunächst als kleine oder mittlere Siedlungen konzipiert wurden, die in erster Linie dazu dienen sollten, Räume zugänglich zu machen oder in Wert zu setzen, die aus der Sicht des Zentrums bisher wenig erschlossen waren. Auch wenn einige dieser Städte später zu Residenzen oder überregionalen Verwaltungssitzen wurden, waren sie zunächst nicht dazu gedacht, als Leuchttürme für politische Ideen zu dienen. Dennoch zeigt sich in ihnen allen das Bestreben der Gründer, mithilfe einer im Voraus geplanten Baustruktur sowie einer mehr oder weniger sorgfältig ausgewählten Bevölkerung auch auf das Zusammenleben der Bewohner einzuwirken. Die Planer aller hier vorgestellten Städte teilen die Ideale von Ordnung, Regelmäßigkeit und Nützlichkeit. Doch allen untersuchten Städten ist ebenso gemeinsam, dass die ursprünglichen Planungen nur zum Teil umgesetzt werden konnten. Selbst dort, wo sich die Planer eine Tabula rasa erhofften, auf der sie der Stadt ein ganz vorgeplantes Gesicht geben konnten , stießen sie auf Beschränkungen unterschiedlichster Art, Improvisationen und ständige Umplanungen waren Begleiter der meisten Stadtbauprojekte, sowohl in Bezug auf die Form der Stadt als auch auf ihre Bewohner. So manche Stadt wäre wohl schon nach einer Generation für ihre Planer kaum mehr zu erkennen gewesen. Und doch sind es gerade diese Abweichungen von den Plänen, die Unwägbarkeiten und die Zufälligkeiten, die Planstädte zu einem lohnenden Forschungsobjekt machen. Wenn es dem vorliegenden Themenheft gelingt, das aufzuzeigen, dann hat es seinen Zweck erfüllt.
Ergänzt wird der Themenschwerpunkt um einen zusätzlichen Beitrag aus einem ganz anderen Themenfeld. Walter Blasi und Martin Malek widmen sich einem selten betrachteten, gleichwohl relevanten Aspekt in der Geschichte der Sowjetunion: dem Beginn der Motorisierung. Ihre detaillierte Untersuchung, die sich an der Schnittstelle von Wirtschafts-, Militär- und Politikgeschichte bewegt, bietet auf der einen Seite faktenreiche Grundlagenforschung in einem wichtigen Feld der Sowjetgeschichte und macht auf der anderen Seite, in welthistorischer Perspektive, die internationale Einbindung der frühen sowjetischen Motorisierungsbestrebungen deutlich.
Darüber hinaus wollen wir in dieser Ausgabe drei verstorbene Kollegen würdigen. Bereits 2017 ist der Hamburger Historiker und langjährige Mitherausgeber der Zeitschrift für Weltgeschichte, Manfred Asendorf, verstorben. An ihn erinnert als Weggefährte im Bereich der Globalgeschichte Hamburgs Helmut Stubbe da Luz. Erst kürzlich verschied der Chefredakteur der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte und Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Jürgen Zarusky. Sein ebenso engagiertes wie eigenwilliges Forscherleben als Experte für Nationalsozialismus und Sowjetdiktatur würdigt der Geograph und Historiker Pavel Poljan, der dem Verstorbenen nicht nur thematisch eng verbunden ist. Schließlich erreichte uns im September 2019 die Nachricht, dass Immanuel Wallerstein, der Begründer der Weltsystemtheorie, verstorben ist. Mit seinem Erbe hat sich die ZWG immer wieder auseinandergesetzt und wird dies auch zukünftig tun. Den Abschluss dieser Ausgabe bilden wie gewohnt die Rezensionen einiger ausgewählter, für das Themenspektrum der Zeitschrift interessanter Publikationen.
Ulrich Hofmeister, Jürgen Nagel
INHALT
Nachrufe
Manuela BoatcaWeltsystemanalyse als politischer Protest. Ein Nachruf auf Immanuel Wallerstein (1930–2019)
Helmut Stubbe da LuzReflektierte Parteilichkeit. Gedanken an Manfred Asendorf (1944–2017)
Pavel PoljanEin Leben für die Historie und Historiker. Zur Erinnerung an Jürgen Zarusky (1958–2019)
Planstädte im Zeitalter der Aufklärung
Ulrich HofmeisterPlanstädte im Zeitalter der Aufklärung ―ein Forschungsfeld
Peter JohanekDie Wurzel der europäischen Planstadt im Mittelalter
Thomas WenderothErlangen ― eine komplexe barocke Stadtplanung
Sandra HirschStadtplanung am östlichen Rand der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert. Die Um-gestaltung Temeswars
Andreeas Hübner„Notre Ville est fort belle” New Orleans als Modell colonial-urbaner Ordnung
Alexandra GittermannDie “Neuen Siedlungen” in Andalusien (1767)
Natalia TuschinskiStadterhebung Irbits und die Stadtplanung Katharinas II.
Jürgen G. NagelDie Kompanie als Stadtherr. Europäischer Planungswille und urbane Realität in Süd-ostasien zur Zeit der Ostindienkompanien
Beitrag
Walter Blasi/Martin MalekEine „Klasse auf Rädern“. Die Anfänge der Motorisierung in der Sowjetunion ― vom Auto und Traktor zum Panzer (1917–1937)
Rezensionen
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